Die Kostbarkeit dieses Readymades ist belegt: Kürzlich wurde das Stück für 7,9 Millionen Euro auktioniert. Nur für 72 Stunden und nur in Berlin war das Readymade zu sehen. Dann kehrte es zu seinem unbekannten Besitzer zurück. Das Museum hatte extra Tag und Nacht geöffnet und selbstverständlich zog die kleine „Belle Haleine“ viele Besucher an. Manche jedoch blickten nur kurz auf das rätselhafte Objekt und gingen wieder. Die meisten aber gaben sich Mühe. Sie wollten möglichst dicht an die Vitrine heran, sie schauten genau, studierten das Ausstellungsstück von allen Seiten, suchten die Bedeutung zu erhaschen. Verständnisvoll nickend, blieben sie noch mit Bekannten im Gespräch eine Weile stehen.
Grandioses Theater, fulminante Akteure und eine fantastische Atmosphäre. Was wie die Beschreibung einer Performance klingt, war aber als Ausstellung angekündigt. Was wurde da eigentlich ausgestellt und war es nicht doch eher eine Aufführung? Die meisten Besucher werden gar nicht bemerkt haben, dass sie Teil einer besonderen Inszenierung geworden waren. Der Schein der Veranstaltung war so verwirrend, so undurchschaubar, eben wie gut gemachter Schein zu sein hat. Was aber war faktisch gewesen? Die Anbetung eines Readymades als Fetisch und Ikone der Moderne? Oder diente die aufwendige Veranstaltung der Aufpreisung des kürzlich auktionierten Werkes?
Der Vorhang ist gefallen und viele Fragen sind offen. Es lohnt deshalb, sich die Dramaturgie des Ereignisses genauer anzuschauen.
Plot-point 1
Marcel Duchamp war fasziniert vom Widerspruch, vom logischen Widerspruch. Noch mehr als der konträre aussagenlogische Widerspruch begeisterte ihn der kontradiktorische aussagenlogische Widerspruch. Es ist der stärkere Widerspruchsbegriff. „Die Sonne ist aufgegangen“ und „Die Sonne ist nicht aufgegangen“. Diese Aussagen stehen im Widerspruch zueinander, denn die eine Aussage ist die Negation der anderen. Octavio Paz erzählt, dass Marcel Duchamp gerne Widersprüche aufspürte und sich in Gedankenexperimenten damit beschäftigte, wie man einen Widerspruch gezielt konstruieren kann.
Mit der Erfindung des Readymades hat Duchamp die Konstruktion eines Widerspruchs vergegenständlicht, im wortwörtlichen Sinne in einen Gegenstand gepackt. Es beginnt ganz einfach. Das Konzept Readymade beinhaltet zwei sich widersprechende Aussagen: „Es ist ein Flaschentrockner“ und „Es ist kein Flaschentrockner“ (sondern ein Kunstwerk – aber das kommt erst später). Das Pfiffige des Readymade-Konzeptes ist: Im Readymade erlischt keine der beiden Aussagen, sie bleiben beide erhalten, denn der Gegenstand ist unverändert und evidenterweise ein Flaschentrockner. Gleichzeitig wird durch die Verschiebung des Gegenstandes in den Ausstellungskontext seine Gebrauchsfunktion negiert. Dann geht es weiter: In einem zweiten Schritt wird der Gegenstand zum „Kunstwerk“ nominiert und zuerst von Duchamp als „sculpture toute fait“, fertig vorgefundene Skulptur und später dann als „ready made“ bezeichnet. Weil Duchamp das Komplizierte liebte, erhielt ein Readymade zudem vielfach noch ein Wortspiel als Titel zugeschrieben.
Die Negation des Gebrauchswertes des Gegenstandes durch die Neudefinition als Kunstwerk lässt den Gegenstand an sich unberührt. Dadurch entsteht die Spannung des Widerspruchs im Readymade: Man weiß nicht, was ist es denn nun? Wahrnehmung und Verstehen prallen gegeneinander. Das Verstehen wechselt hin und her zwischen den sich widersprechenden Aussagen „…ist ein Flaschentrockner“ und „… ist kein Flaschentrockner, aber ein Kunstwerk“ und gerät aufs Glatteis.
Genau diesen Prozess können wir als die avantgardistische Intention des Künstlers werten: Das Glatteis, auf dem es für unser gewohnheitsmäßiges Verstehen keinen Halt gibt. Diese Verunsicherung meinte Duchamp, als er von der wiederholten Destillation, der Rektifizierung der Dinge und der Wahrnehmung sprach, die er beabsichtigte. Verstärkt wird dies noch durch die Titel-Wortspiele, die eine klare Bezeichnung des Gegenstandes prismatisch auflösen und in endlos viele Bezüge stellen.
Plot-point 2
Duchamp war sich bewusst, dass die Manifestation des Widerspruchs im Readymade wahrscheinlich nur einmal gelingen konnte. Hatte man das Readymade einmal im Kunstkontext gesehen, wurde es nie wieder zum einfachen Flaschentrockner. „For the spectator art is a habit-forming drug“ und „I was aware of that and I wanted to protect my ready made against such contamination.“ Konsequenterweise zerstörte Duchamp seine Readymades nach der Ausstellung.
Aber in den 60er Jahren legte Arturo Schwarz mit Duchamps Genehmigung Repliken der Readymades auf. Wenn wir heute eine Readymade-Replik ausgestellt sehen, können wir die ursprüngliche Sprengkraft des Konzeptes, die gegenständliche Verkörperung der logischen Figur „Widerspruch“, so wie die Aufhebung des fetischistischen Warencharakters des Gegenstandes, die damit ausgelöst wird, nur noch erahnen. Wenn heute trotzdem ein bisschen von diesem Schock noch verfängt, dann ist dies eher unserer eigenen Imagination und Projektion zuzuschreiben. Weshalb ein Readymade, stellt man es aus, heute leicht zum Fetisch gerät. Den Fachleuten ist daher die Schwierigkeit bewusst, ein Readymade konzeptionell angemessen zu präsentieren. Vor einigen Jahren wurde dies auf einem Symposium im Hamburger Bahnhof ausführlich diskutiert.
Museumschef Udo Kittelmann ist da hemdsärmeliger. Mit allen Mitteln der Inszenierungskunst wurde jetzt das Readymade „Belle Haleine“ re-auratisiert. Die Einladungskarte, die Öffnungszeiten, der Sockel, der der gleiche ist wie der, der eigens für die neue Präsentation der Nofretete gefertigt wurde, das Spiel mit Licht und Dunkelheit und auch die nicht ganz korrekte Behauptung, „Belle Haleine“ sei das einzig erhalten gebliebene Readymade – allerlei Tricks und Kniffe wurden aufgeboten, um das Readymade zu re-auratisieren. Das Publikum hat es gelohnt, der Event war in aller Munde und wurde willfährig in allen Zeitungen beklatscht.
Das Museum wurde im wahrsten Sinne des Wortes als großes Schaufenster benutzt. Weil, wie Marx schon wusste, Waren ausgestellt werden müssen. Das Event „72-Stunden mit Belle Haleine“ ließ das Readymade permanent changieren, von Kunst und Ikone zu Fetisch und Ware. Welchen Zweck verfolgte dieses Event darüberhinaus? Ein erneuter Erkenntnisgewinn über die Radikalität des Readymade-Konzeptes war durch die übermäßige Inszenierung von Magie und Aura ausgeschlossen. Eine materielle Werterhöhung durch die museale Öffentlichkeit hatte das Ausstellungsstück nach dem sensationellen Auktionsergebnis nicht mehr nötig. Ohnehin kann ein Museum in diesem Preissegment nicht mehr zur Erhöhung oder Stabilisierung des Preises beitragen. Wenn die Ausstellung ein spektakulärer „sozial meeting point“ während der „Langen Nacht der Museum“ werden sollte, ist das Event aufgegangen.
Happy end
Was in diesem besonderen Falle einer Ausstellung die Institution selbst, die Stiftung des Staatlichen Preußischen Kulturbesitzes leisten konnte, ist, die Begehrlichkeit zu steigern. Denn man kann vermuten, dass die Ausstellung dazu diente, das Readymade erneut im Kreislauf von Angebot und Nachfrage zu platzieren. Der angebliche private Besitzer existiert nämlich vielleicht gar nicht. Als Leihgeber zeichnet vermutlich der Kunsthandel, eine Galerie. Die wird sich über die aufwendige öffentliche Inszenierung des Readymades besonders gefreut haben. Für uns Besucher war zum Glück der Eintritt frei.
Marcel Duchamp „Belle Haleine: Eau de Voilette, 1921“, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin, 27.–30.1. 2011