Der neutestamentarische Evangelist Markus hat sich die Illustratoren seiner biblischen Erzählungen über das Leben Jesu nicht aussuchen können, da der Siegeszug des Christentums und damit das Interesse an der Verbildlichung der biblischen Ereignisse erst nach dem Tod des Markus begann. Wenn der sich wohl bester Gesundheit erfreuende Philosoph Marcus Steinweg eine Ausstellung unter dem Titel „Kunst und Philosophie“ kuratiert, so kann man davon ausgehen, dass er sich die Künstler, die seine Philosophie, nun ja: nicht illustrieren, sondern mit „Kunstleben“ erfüllen sollen, nach seinem Gustus aussucht. Ihn, den neuzeitlichen Denker Marcus Steinweg, verbindet mit dem Evangelisten Markus nicht nur die phonetische Namensgleichheit: die metaphysischen Texte Steinwegs folgen durchaus klerikalen Mustern. Sie beginnen für Laien schwer verständlich voller philosophischer Termini und Adorno-, Heidegger- und Deleuzezitate, bei denen stets Evidenz behauptet, selten nachgewiesen wird, um dann ansatzlos in banale, burschikos sich anbiedernde Veranschaulichungsbeispiele, ähnlich biblischen Gleichnissen, überzugehen, bei denen man nicht anders kann, als zu sagen: „Recht hat der Mann“. Das hat schon etwas Ökumenisch- Pastorales: erst die katholische Liturgie und dann die evangelische Predigt.
Nun ist es aber durchaus so, dass Steinwegs Thesen viele sympathische Gedanken enthalten, die sich problemlos auf meine Evidenzzone herunterbrechen lassen. So folge ich ihm gern, wenn er behauptet, dass es „in der Kunst wie in der Philosophie nicht primär um Verständlichkeit, sondern um Klarheit“ geht und es beim Betrachten von Kunst entscheidend ist, „dass man weiß, dass diese Arbeit stimmt“. Noch schöner finde ich folgenden Ratschlag von ihm: „Man muss den Mut haben, nicht zu verstehen, zu begreifen, dass Blindheit zum Verstehen gehört.“ Aber, und da gebe ich ihm auch wieder recht, in der Kunst und in der Philosophie gibt es durchaus „eine ganze Menge zu verstehen“. Kurz gesagt: Steinwegs Form des Zusammendenkens von Kunst und Philosophie prädestiniert ihn ohne weiteres zur Gestaltung einer Ausstellung über die Freundschaft dieser beiden Subjekte. Begeben wir uns also voller Blindheit und mit dem Willen zum Verstehen in den Tatsachenraum n.b.k. und prüfen, ob die dort versammelten Arbeiten „stimmen“.
Swantje Hielschers Arbeit „Für die Wahrheit“ beschäftigt sich nun gleich mit einer der umstrittensten philosophischen Kategorien. Zwei überdimensionale Glasscheiben auf einem Stahlgestell bieten den Durchblick und sind zumindest „stimmig“ im Raum platziert. Wer sich einmal durch die endlose Auswahl an Wahrheitsdefinitionen gekämpft hat, wird sich über diese einfache Antwort freuen, doch das denkende Ich hat sich halt noch nie mit den einfachen Antworten zufrieden gegeben. Immer weiter, immer weiter und so folgt auf das Fahrrad das Automobil, wie uns auch João Maria Gusmão und Pedro Paiva in ihrem Kurzfilm „Wheels“ zeigen. Da rotieren, schön anzusehen, Räder dieser beiden Fortbewegungsmittel vor der Kulisse von São Tomé e Principe und allmählich dreht sich auch der Hintergrund. Wollte man sich grade noch wegen billiger Duchamppose abwenden, so kann man sich letztendlich noch bis zu den Ungenauigkeiten des kopernikanischen Weltbildes durchdenken.
Sind diese beiden ersten Arbeiten nun auch nicht hundertprozentig stimmig, so lassen sie sich doch mit Sympathie betrachten. Das kann man, wieder einmal, von der Arbeit des Steinwegspezls Thomas Hirschhorn nicht sagen. Wieder einmal erzeugen Gigantomanie, überbordender Materialeinsatz und pseudophilosophischer Überbau nur ein müdes Gähnen. „Eye to Eye Subjecter“ füllt mit zwei Schaufensterpuppen, die mit einem überdimensionalen Bilderteppich bekleidet sind, der zum einen aus Katastrophenfotos voller Feuer, zum anderen aus Fotos mit paradiesisch-kitschigen Sonnenuntergängen besteht, einen großen Raum aus. Ach ja, die Bilderflut der Medien: so übersimplifiziert kann man es darstellen. Sicher steht Hirschhorn mit seinem Ansatz, Kunst einem „nicht-exklusiven Publikum“ nahe bringen und politisch machen zu wollen, sowie dem Einsatz alltäglicher Massenwaren als Kunstträger den zeitgeistkritischen, linksliberalen oder „antikapitalistischen“ Philosophen nahe und mit denen wiederum legen sich Feuilleton und Kunstkritik ungern an, aber Hirschhorns Arbeiten sind in jüngster Zeit meist nicht mehr als große Blasen. Er ist nach seinen veritablen poststrukturalistischen Anfängen längst einem Irrweg gefolgt und bietet mittlerweile Kapitalismuskritik mit imperialer Geste: allein die schiere Größe seiner Kunstwerke verdrängt physisch die „kleine“ Kunst; politisch gelesen: er partizipiert am Sieg der Makrostrukturen über die Mikrostrukturen, ohne geistigen Mehrwert zu generieren. Ebenfalls einen eigenen Raum gibt es für die Video- und Soundinstallation „Toga“ von Marcellvs L., bei der man das Einziehen eines Fischernetzes beobachten kann, begleitet von einem lauten, dumpfen Dröhnen. Diese saubere Arbeit an der Grenzlinie von Realität und Abstraktion, die man in ihrer Ästhetik schon fast klassisch nennen kann und die beim geneigten Betrachter eine Assoziationsmaschinerie anzuwerfen imstande ist, stimmt einfach. Bilder und Töne eröffnen, vielleicht nur für einen winzigen Moment, die Möglichkeit für einen imaginären Blick in das sonst so hermetisch abgegrenzte Gefüge aus Raum und Zeit. Mag sein, dass sich dieser Effekt beim zweiten oder dritten Betrachten nicht mehr einstellt, aber es bleibt das schöne Gefühl, kurzzeitig in einer anderen Sinneswelt gewesen zu sein. Diese Arbeit ermöglicht, um eine der einfacheren Formulierungen Marcus Steinwegs zu benutzen, „die Öffnung auf die Inkonsistenz der Tatsachenevidenz“.
Danach möchte man den eh schon schwachen Ausstellungsbeitrag von Christian Schwarzwald gar nicht mehr anschauen. Unzählige Zeichnungen suggerieren Metallgitter mit abstrakten Motiven, Wortkombinationen, Denkerköpfen und Sonnen. Ein Wortgebilde sagt: „Do Nothing“; ich habe zuerst gelesen: „Don’t Think“. Ja! Beides! Langsam gewinnt man den Eindruck, Marcus Steinweg will uns mit seiner Ausstellung die gesamte qualitative Bandbreite philosophisch kontaminierter Kunst vorführen. Auf die simplere Arbeit von Schwarzwald folgt mit „Schnur im Nebel (Introtourismus) – erneut eingeschlossen“ von Haegue Yang eine souveräne Installation. Während die Arbeit von Marcellvs L. ohne Kommentar funktioniert, ist es hier schon gut zu wissen, dass der Kern dieser Hommage an Dominique Gonzales-Foerster kurz gesagt aus unentwickelten Filmen einer Ostseereise, die in einem verschlossenen Tresor liegen, besteht. Zu sehen sind Tisch, Stuhl und Tresor, als dessen Inhalt werden Korrespondenz, Briefumschläge und Fotonegative behauptet. All das ist so erzählerisch wie nötig und minimalistisch wie möglich präsentiert. Ein reizvolles, oder vielleicht auch belangloses Geheimnis überzeugend in ein bleibendes, retinal konsumierbares Bild umgesetzt.
Richard Wright, dessen Kunst ich eigentlich schätze, musste im n.b.k. seine Gouache im unmöglichsten Teil des Ausstellungsraums anbringen. Sicher bevorzugt er stets die etwas verborgeneren Ecken eines Raumes; hier aber erreicht seine Arbeit keinerlei Wirkung, wo doch gerade seine still-schöne Kunst dieser Ausstellung gut tun könnte. Nicht weit davon hat Kitty Kraus eine Variante ihrer fragilen Glasinstallationen aufgebaut, dazu gibt es noch ein bundesdeutsche Elektroinstallationsvorschriften missachtendes Halogenlicht. Lassen wir mal den aktuellen Hype um Nationalgaleriepreisanwärterschaft beiseite und versuchen Kraus’ Arbeiten auf das Wesentliche zu reduzieren, so erscheinen mir ihre symbolischen Botschaften stets verharrend im Sprung zu großer Kunst. Schön ist es, wenn sich ein Kunstwerk mit irgendeinem integrierten Haken selbst ein wenig in Frage stellt; bei Kitty Kraus sind es leider nur Häkchen. Und welches kuratorische Kalkül mag Marcus Steinweg geritten haben, zwei solch formal ähnliche Arbeiten wie die von Swantje Hielscher und Kitty Kraus derart korrespondenzlos nahezu nebeneinander zu stellen?
Auch Bethan Huws’ vierteiliges Arrangement hält leider nicht ganz, was man sich versprochen hatte. Diese Miniretrospektive ihres Schaffens bietet in vier Kunstgattungen ihre Markenzeichen: eine Duchampverfremdung dokumentiert Huws’ exzessive Beschäftigung mit Duchamp, dazu eines ihrer, zugegeben, schönen Binsenboote, eine Bleistiftzeichnung und ein Video. Klar geht es um Philosophie, klar gehört sie in solch eine Ausstellung, aber die Auswahl wirkt beliebig. Man kann wohl aus dem Schaffen von Bethan Huws auswählen was man will; man wird immer ein Stück des roten Fadens ihrer Philosophie in den Händen halten. Die Freundschaft zwischen Kunst und Philosophie hat diese Ausstellung mit Arbeiten eh als philosophieaffin bekannter Künstler durchaus ansehenswert illustriert, mehr nicht. Das Kunst-Philosophie-Rhizom wurde dabei mit willkürlich ausgesucht erscheinenden Seitentrieben präsentiert, wobei starke, philosophienahe Kunstpositionen neben Philosophienah- sein-wollender-Kunst stehen, ohne dass überhaupt versucht wurde, Verbindungsstränge innerhalb dieses Geflechts offen zu legen. Ich glaube schon noch, dass Marcus Steinweg in der Lage ist, uns stärkere Ausstellungen zu offerieren. Seine philosophischen Gedanken zur Kunst kann man vielleicht so lesen, dass Kunst etwas anderes als die Realität ist, dass die Kunst diese Differenz bejaht und dass dort, wo die Kunst auf ihrem mäandernden Weg die Wahrheit streift, es ganz besonders spannend werden kann. Das darzustellen wurde im n.b.k. nur bedingt bewältigt.
„Kunst und Philosophie“ kuratiert von Marcus Steinweg KünstlerInnen: João Maria Gusmão & Pedro Paiva, Swantje Hielscher, Thomas Hirschhorn, Bethan Huws, Kitty Kraus, Marcellvs L., Christian Schwarzwald, Richard Wright, Haegue Yang PhilosophInnen: Mehdi Belhaj Kacem, Ray Brassier, Simon Critchley, François Jullien, Catherine Malabou, Boyan Manchev, Chantal Mouffe, Nina Power, Marcus Steinweg n.b.k., Chausseestraße 128/129, 10115 Berlin, 3. 9. – 30. 10. 2011