Ricoh Gerbl

Medizinhistorisches Museum

2009:Feb // Thomas Wulffen

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02-2009
















Die Fotografien von Ricoh Gerbl sind eingebunden in ein ganz konkretes und besonderes Ambiente. Im „Medizinhistorischen Museum der Charité“ sieht sich der Besucher zahllosen Räumen gegenüber. Diese Räume wiederum enthalten Körper und Teile von Körpern. Das steht im Widerspruch zu einem Ausstellungsraum, der als White Cube zu einem Modell geworden ist. „Eine Galerie wird nach Gesetzen errichtet, die so streng sind wie diejenigen, die für eine mittelalterliche Kirche galten. Die äußere Welt darf nicht hereingelassen werden, deswegen werden Fenster normalerweise verdunkelt. Die Wände sind weiß getüncht. Die Decke wird zur Lichtquelle.“ (Brian O’Doherty, „In der weißen Zelle“, 1996.).

Bei dem Ausstellungsprojekt „Thank you for judging“ aber ist alles anders als gewohnt. Körper begegnen Körpern wie Räume anderen Räumen. Die Einbindung der Fotos von Ricoh Gerbl in den Museumskontext stellt neue Sichtachsen her, die schon durch die Hängung der Arbeiten verdeutlicht wird: Sie stehen sich gegenüber und erlauben so die Sicht der Protagonisten auf sich selbst, von der Natur auf die Bühne oder zurück. Diese Blickachsen stehen in direkter Konkurrenz zur Flucht des Raumes, der sich auch der Betrachter ausgesetzt sieht. Die Blickachsen unterbrechen diese Flucht und nehmen damit aber auch die Stellung der Vitrinen auf. Die Pfropfung der Ausstellung durch die Fotografien von Ricoh Gerbl lässt die Exponate körperlich werden, während die Körper in den inszenierten Bildern ihre Körperlichkeit verlieren. Die Pfropfung ist ein Mittel der Ausstellungsgestaltung, das allerdings zu selten verwendet wird. Ricoh ­Gerbl aber setzt diese Technik öfter ein.

Das eigene Urteil wird reflektiert in den Ansichten und Blicken der anderen: der ‚Schauspieler‘ auf der Bühne und den Wanderern im Wald. Wer urteilt über wen? Wer urteilt, urteilt immer über jemand anderen, der nicht ich ist. Der oder die andere ist ein Gegenüber, das den Urteilenden gleichzeitig zu einem weiteren Gegenüber macht. Wo finden sich Berührungspunkte zwischen dem, der urteilt und dem, der beurteilt wird? Oder gilt gleich das Diktum des Dichters Arthur Rimbaud „Ich ist ein Anderer“?

Ricoh Gerbl hat in ihrem fotografischen Projekt „Thank you for judging“ (Danke für das Urteilen) eine Antwort formuliert, die andere Antworten und Fragen ermöglicht. Im Zentrum stehen dabei Menschen mit Behinderungen, denen Ricoh Gerbl in diesem Werk ein Podium gibt. Auf diesem Podium erfahren sie sich als Menschen in einer spezifischen Situation, die wenig gemein hat mit den gewöhnlichen Bedingungen, unter denen Menschen mit Behinderungen leben. Denn sie sind tatsächlich mehr als andere Urteilen ausgesetzt, auch wenn diese nicht ausgesprochen werden.

 Ricoh Gerbl hat sie mitgenommen auf eine Bühne im „Haus der Berliner Festsspiele“ und in den Spandauer Forst. Die Gegensätze der Spielorte sind bewusst gesetzt, um dem Urteilen ein vorläufiges Ende zu setzen. Denn in den gegebenen Situationen heben sich die Differenzen auf. Die Welt wird zur Bühne im buchstäblichen Sinne. Das Theater, das sich auf der Bühne zeigt, wird zum Bindeglied zur Bühne der Natur im Spandauer Forst. Dass diese Orte als Bühnen verstanden werden sollen, zeigt sich auch in deren künstlichem ‚Licht‘. Die reale Bühne wird überstrahlt, während die andere im Dunkeln bleibt. Ricoh Gerbl hat dabei bewusst mit Unter- und Überbelichtung gearbeitet. Das führt zu einem malerischen Effekt, in der die jeweilige Bühnen zu einer Fläche wird. Die Künstlerin betont diese Flächigkeit, indem sie Striche ins Bild einfügt. Diese kann man auch als Korrekturzeichen verstehen und sie verweisen gleichzeitig auch auf Bildwelten der Kunst. Und es erscheinen einem die Genreszenen eines Jean-Honoré Fragonard oder die Gemälde eines Jacques-Louis David und sei es „Der Schwur der Horatier“. Die Waldszenen aber haben ganz andere Referenzen, die eher auf Gemälde des 20. Jahrhunderts verweisen wie die des Expressionismus. Den Begriff der Unterbelichtung kann man sowohl im übertragenen als buchstäblichen Sinne nehmen. Schließlich ist ein gängiges Urteil gegenüber Menschen mit Behinderungen, dass sie ‚unterbelichtet‘ seien. Die Helligkeit der Bühne lässt deren Künstlichkeit noch deutlicher werden, während die Dunkelheit des Waldes dessen Bedrohungspotential aufzeigt. In beiden Fällen handelt es sich um inszenierte Räume, die bespielt werden von Menschen mit Behinderungen. Vor diesem Hintergrund wirken Überbelichtungen und Unterbelichtungen als Korrektiv der Blickpunkte ‚gewöhnlicher‘ Menschen. Oder der White Cube ist umgezogen in die Fotografien der Ricoh Gerbl, eine inversive Art der Pfropfung.

Thomas Wulffen  Ricoh Gerbl „Thank you for judging“
Berliner Medizin­historisches Museum der Charité
Charitéplatz 1
10117 Berlin 19.11.2008–11.1.2009 
Ricoh Gerbl „Thank you for judging“ (© Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, 2008)
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