„Intercontinental Berlin inkl. SOMA“, die mit Unterstützung des Hamburger Bahnhofs angestoßene „Air-Berlin“-Kampagne, lockte begleitend zu der aktuellen Ausstellung des Museums der Gegenwart: „Soma“ von Carsten Höller, gierige Vorweihnachtstouristen zu einem Kurztrip in die Hauptstadt. Die propagierten zentralen Erleuchtungsaspekte, welche der Künstler durch den Verzehr seines „Somas“ zu erproben suchte, lasen sich wahrhaftig phänomenal, verblüffend wie das PR-Konzept eines Pilger-Tourismusunternehmens: „Soma verhilft zu Erkenntnis und Zugang zur göttlichen Sphäre, zu Glück und Siegeskraft.“ Der Anreiz war groß und die Deckungsgleichheit mit der Weihnachtswunschliste vieler gestresster Deutscher frappant. Reichten die unbezahlbaren Effekte auch rational nicht aus, so konnte der kleine Besucher trotzdem schon vor dem 24. Dezember in Kontakt mit den tierischen Gehilfen des Weihnachtsmann treten. Carsten Höller rutschte gewissermaßen wortwörtlich ins Licht der Öffentlichkeit und holte in der Tate Modern mit seinen Riesenrutschen auch international noch einmal ordentlich Schwung, um im Hamburger Bahnhof eine weitere „test side“ zu errichten. Der 1961 geborene Belgier halbierte die historische Ausstellungshalle, um sie in ein lebendiges Labor zu verwandeln.
Sein „tableau vivant“, den Maßstäben einer autonomen empirischen Untersuchung nicht annähernd gerecht werdend, knüpft an die 40 Jahre alte Hypothese des US-Ethnologen R. Gordon Wasson an, „Soma“ sei eine Fliegenpilz-Zubereitung. Die experimentelle Verlängerung der langjährigen Suche nach der Identität und Verarbeitung des zentralen Inhaltsstoffes, nun in einer künstlerischen Mixed-Media-Installation, spiegelt das gebrochene naturwissenschaftliche Interesse des promovierten Agrarwissenschaftlers wider, der in seinen Installationen das Experiment und die unmittelbare Erfahrung immer wieder euphemistisch anpreist. Schenkt man dem als Referenz angegebenen, auf die Zeit um 1500 v. Chr. zurückgehenden Mythos Glauben, so kann die Produktion des Zaubermittels, direkt aus den Hallen der Kunst hinaus, ewiges Leben generieren. „Wir haben das Soma getrunken, wir sind unsterblich geworden“ so heißt es.
Das zauberhafte Environment verbindet die absurden Einzelteile zu einem noch groteskeren Ganzen; die gradlinig den Raum in zwei identische Hälften dividierende Spiegelachse konstruiert eine Gegenüberstellung zweier identischer Versuchsaufbauten. In einer Zaunstruktur eingepfercht, tummelten sich zwölf Rentiere. Am Rand des Geheges befanden sich Kühlschränke mit der geheimen Inkredentie dem Fliegenpilz ( lat. Amanita muscaria), in der Luft zwei Vogelvolieren, drapiert an einer überdimensionalen Waage. Dazu weitere Klischeeaccessoires der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung: Petrischale, ein Mausekäfig, eine Fliege.
Der Rentierurin ist das Zauberelixier, die Probanden sind Vögel und Mäuse, Seite eins ist Testgruppe, um allem Anschein nach mit Seite zwei der Kontrollgruppe verglichen zu werden und im Sinne empirischer Tradition repräsentative Ergebnisse zu erhalten. „Soma“ ist ein Naturprodukt und entsteht ebenso natürlich wie die Tatsache, dass lebende geflügelte und vierbeinige Ausstellungsstücke den Hamburger Bahnhof zieren. Während 2005 in der Londoner „Turbinenhalle“ noch die wahre und direkte Konfrontation des Betrachters mit dem Experiment und der unmittelbaren Erfahrung zu belobigen war, ist Carsten Höllers neueste Installation „Soma“, hinter der Maskerade lebendiger Rentiere, eher das mühsame, textlastige Illustratum einer mythologischen Überlieferung, unter dem Deckmantel der Naturwissenschaften.
Was Carsten Höller wirklich betreibt, ist Bildproduktion in kleinschrittiger Form und Weise, samt einem skulptural monumentalen Überbau. Sechzehn bis zu achtundfünzig Meter lange, hochglänzende „Stainless-Steel“-Windungen fordern den Freiwollenden zum eigenen Testlauf heraus. Das Museum als Laboratorium hingegen scheint angetrieben, die kleine Idee, theatral in größter Dimension annehmbar zu machen. So entpuppt sich auch die immense Tribüne als Schnittstelle zwischen Plagiat und strategischem Genialismus: Das roh aus Bänken zusammengezimmerte Baugerüst weckt Erinnerungen an Martin Kippenbergers formal so ähnlich bestuhlten Sitzrang in „The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“ (1994). Während Kippenbergers Bretterboden ein integraler, unverzichtbarer Bestandteil der Installation war, scheint es sich im Fall Höllers lediglich um eine kontemplative Raststelle zu handeln.
Ein Rondell war gespickt mit gemischten Pilzen, die, wie im Biologiebuch der Länge nach halbiert, überdimensioniert und als Trennmarke „Rentierbereich eins“ von „Rentierbereich zwei“ zu separieren schienen. Sahnehäubchen auf dem Rentierrücken, ein rundes Plateau mit dem Blick über die gesamte Herde und der Möglichkeit, noch nicht einmal in der Nacht das Szenario aus den Augen zu lassen.
Das Highlight: „Bed and Breakfast“ direkt in der Ausstellung. Ein exquisites Spektakel für diejenigen, welche von dem günstigen Angebot der Fluggesellschaft keinen Gebrauch machen mussten; und viel exklusiver, als es eine Currywurst vermag. Wer hätte vermutet, dass Wildhüter Kittelmann seinen Tierschwerpunkt, durch Walton Ford in zweidimensionaler Vorstufe initiiert, um nun dank des Zirkus Höllers, seine wohlverdiente Profession als Zoodirektor einzunehmen. Die Masse der neugierigen Beobachter nutzte den Hamburger Bahnhof gerne, um hinter der Panzerglasscheibe dem Treiben zuzuschauen und hinkende Vergleiche über die Stadien des Experiments heranzuziehen.
Der Publikumsmagnetismus als naturwissenschaftliches Phänomen betrachtet, hätte sich unter diesen räumlichen Gegebenheiten mit aufrichtigerem Interesse und unter angemesseneren Gesichtspunkten durchaus objektiver erforschen lassen, als es Carsten Höllers ideelle Bedingungen über „Soma“ zuließen. Denn wer eigentlich in den Fokus der Beobachtung gerückt wurde, war der die trabende Masse umschleichende Zuschauer. Es ging weniger um die Illustration eines Versuchsaufbaus zur Herleitung eines okkulten Verfahrens, als vielmehr um das emergente Verhalten der pilgernden Massen. Somit determinierte nicht einmal der Elektrozaun die groß angelegte Wissenschaftsvergewaltigung – die eigentliche Glocke über dem Experiment war das Dach des Hamburger Bahnhofs. Es war wohlweislich eine animalische Leistung, wie sich durch den Brunftruf von Direktor und Dompteur, die Ausstellungshalle mit naiver Schwärmerei anfüllte: Stolz, staunend, amüsiert und kaum zu bändigen scheinen Mensch und Museumsdirektor im Anblick der anderen Spezies. So arbeitet Carsten Höller tatsächlich an der Unsterblichkeit, denn Lachen verlängert ja bekanntlich das Leben. Nun, wenn die ewige Vitalität nicht durch „soma“ herbeizuführen ist, dann sollte man vielleicht doch auf die verheißungsvolle Offerte zurückgreifen, inklusive Currywurst und Pommes.
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