Die Exponate in den beiden kleinen Räumen von Laura Mars Grp. in Kreuzberg sind eine erst heterogen wirkende, locker verteilte Auswahl von Handzeichnungen und fototechnischen Reproduktionen unterschiedlichster Art. Doch schnell bildet sich ein Geflecht aus Entdeckungen und Konjekturen: Kolorierte Architekturbilder von Manfred Kruse gen. Robinson, die sonst nur zu erahnende Innenräume freilegen, an den Comiczeichner Manfred Schmidt erinnernde Großstadt-Wimmelbilder desselben Zeichners, in all ihrer Einfachheit schwindelerregende Verkehrsnetzpläne von Matthias Hintzen, alchemistische Schaublätter von Fritz Kuruso, archäologische Schichtenkartierungen mit kruden Buntstiftflächen und rührend wirkenden Legenden, eine mit verschiedenen Augen-, Nasen- und Mundpartien zu behängende große Porträtzeichnung zur Herstellung von Phantombildern aus der Berliner Polizeihistorischen Sammlung... – sie alle stammen, bis auf einige Leihgaben, aus den Archiven des Berliner Künstlers Andreas Seltzer, denen er Anfang der neunziger Jahre einmal den Namen „Bilderdienst“ gab.
Bei Laura Mars kuratierte Seltzer in den letzten Monaten unter dem Titel „Der konzentrierte Sinn“ schon zwei andere Zeichnungsausstellungen: die eine mit den beeindruckend oberflächlichen Dschungel-Zeichnungen des Berliner Künstlers Vitek Marcinkiewicz, die andere mit einer eigenen Zeichnungsserie, im intensiven Jules-Verne-Spirit einer gezeichneten Expedition in die Vorstellungswelt der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Mit dieser Referenz, einer klassischen Kindheitslektüre, ist auch ein wichtiger Stimmungswert dieser dritten Präsentation aufgerufen: Gesucht wird vom Kurator vielleicht am ehesten eine Bildwelt vor dem Sündenfall – dem Fall in die kalkulierte Unschuld der Kunstszenen oder in die ideologischen Reinheitslehren der Wissenschaft. Sechziger- und siebziger Jahre-Kindheiten bieten denen, die sie erlebt haben, heute reichhaltige Erinnerungen an, die aus eselsohrigen Karopapierstapeln voller Schulnotizen und -zeichnungen und aus Schubladen mit dem Geruch von Bleistiften emporsteigen. Vieles an den „sozialen Graphemen“ stammt aus einem solchen ästhetischen Umfeld der unbestimmt peinlichen und manchmal unheimlichen Nostalgie, mit der auch die damals schlagend welterklärende Kraft von Schulbuchillustrationen wieder aufgerufen werden kann.
Seltzer hat schon viel Arbeit in die historische Recherche nach einem Jenseits des künstlerischen Bildes investiert. Im Unterschied etwa zu den Nachfolgern der Siebziger-Jahre-„Spurensucher“ oder zu Bildersammlern wie Marcel Broodthaers, Gerhard Richter, Hans-Peter Feldmann oder Peter Piller enthält er sich expliziter Strukturbehauptungen, wird weniger zum parawissenschaftlich arbeitenden Künstler als vielmehr zu einem, der „den Bildern“ wie einer kontingent-intelligenten Großmasse tatsächlich „dienen“ möchte, der immer wieder dem Charme des Zufallsfunds erliegt und den damit verbundenen Genuss auch zu vermitteln weiß. Die Neigung, solche merkwürdig anrührenden Trouvaillen, fetischisierte Lieblingsbilder, verdrängte Formen untergründiger graphischer Tätigkeit zu lange im Verborgenen zu halten, könnte leicht zur Herausbildung einer „Inselsprache“ führen. Sachen dann doch zu zeigen, setzt sie dem Licht des viel beschworenen Alltags aus und kann so geradezu heilsam wirken. Und Zeichnung, hier von Seltzer angekündigt als „Anschauungsform, analytisches Mittel“, das „zum großen Teil ohne das Schutzsiegel der Kunst auskommt“, wird in dieser Ausstellungsreihe dankenswerter Weise nicht vollends zur authentischen Magie verklärt, weil sie sich immer mit anderen Bildformen und vor allem mit der Reproduktion konfrontiert sieht.
Doch an dem für diese Zusammenstellung allzu ordentlich und gestresst klingenden Begriff der „sozialen Grapheme“ zeigt sich auch die Gefahr – nein, nicht der Beliebigkeit, sondern eines ungenauen, intertextuellen Raunens, das sich als eine sinnstrotzende Formanalogie zwischen den Bildern und Ideen breit macht. In der Gegenüberstellung etwa der arbeitsmedizinischen Linien-„Zeichnungen“ eines Bewegungsablaufs nach Frank B. Gilbreth aus Sigfried Giedions „Mechanization Takes Command“ (1947) am Beginn einer wissenschaftlichen Rationalisierung industrieller Abläufe hin zu einer „motion-mindedness“ der Fließbandarbeiter und den Brainstorm-„Mind Maps“ aus heutigen Managerkreisen (von Andrea Koch) würde durchaus etwas stecken, mit dem sich das „Soziale“ genauer bestimmen ließe – eine eingangs begonnene Linie, die im weiteren Verlauf der Ausstellung kaum mehr aufgegriffen wird. Gerade der Bezug auf Denker wie Giedion mit seinem Ansatz zu einer „anonymen Geschichtsschreibung“ erscheint hier als die vielleicht aktuellste Spur: auf dem Weg zu einer Bestimmung der Zeichnung als eines „Mediums der Medien“ – einer potentiellen Vermittlungsinstanz zwischen den in Modellen der Autorschaft und der Wahrheit festgefahrenen modernen Bildproduzenten.
„Soziale Grapheme“ Laura Mars Grp. Sorauer Straße 3 24.02.‒ 09.03.2007