Es war auf der Berliner Messe Art Forum, auf der ich mich fragte, warum sich noch immer die Bildwelten des Fin-de-siècle in der gegenwärtigen Kunstproduktion tummeln? Warum müssen Mythen- und Sagenstoffe sowie Elemente des Phantastischen und der Science-Fiction und Fantasywelten als Referenzebene wie Ideenreservoir herhalten, wenn doch Themen wie Globalisierung, Urbanisierung oder Migration eigentlich gegenwärtig sind? Warum hält die Realitätsflucht und mit ihr der Hang zum Erzählerischen im System der Repräsentation an; mit rätselhaften Symbolen, Allegorien und Metaphern, deren Blütezeit doch die des Fin-de-siècle war? Was verbindet die gegenwärtige Generation mit der längst Vergangenen?
Fragen dieser Art stellten sich mir insbesondere beim Anblick einer nicht gerade unauffällig positionierten Plastik von Jonathan Meese auf dem Berliner Art Forum. Die beiden Figuren „Wir, Erzkinder lernen Macht (Süsses Dorf der Verdammtin) = Die Gören“ (2007) standen genau im Eingang des Messestands der Galerie (cfa), so dass eine Konfrontation unausweichlich schien. Was einen dort konfrontierte war Meese selbst Hand in Hand mit Balthus, dem von ihm geschätzten Maler des 20. Jahrhunderts. Beide sind als Zwerge (Meese der Größere) aus dem uralten Material Bronze gegossen und wie so häufig bei Meese mit einer Aura von Mythengestalten umgeben. Mit Vampirzähnen und tiefen Höhlen als Augen mit ihren unförmig-kindlichen Körpern mit dem Zerklüfteten der patinierten Bronzehaut sehen sie aus wie Überlebende einer Apokalypse, wie aus einer anderen Zeit. So ist der Titel eine Anspielung auf den Science-Fiction-Film „Das Dorf der Verdammten“ (Village of the Damned, 1960). Die kalkuliert-exzessive, überbordende Verwendung von mit Bedeutung aufgeladenen Symbolen, Figuren und Materialien wie Bronze, Gral, Erz, Schwert, Ritter, Gott, Balthus und Hitler (usw.) ist bei Meese eine Methode, um das Pathos und die Bedeutungsschwere dieser Begriffe ins Spiel zu bringen, damit weite Assoziationsfelder zu öffnen und diese dann amalgamieren oder kollidieren zu lassen. So wie die verschiedenen historischen und fiktiven Bildwelten bei Meese nach imaginären Gesichtspunkten neu zusammengefügt werden, erfahren sie eine pathetisch-theatralische Transformation und es entstehen neue Symbole und Spracherfindungen (Erzkinder). Generell werden seine neu geschaffenen Bildwelten der lokalen und zeitlichen Kausalität enthoben. Zukunft und Vergangenheit, Diesseits und Jenseits sind gleichermaßen gegenwärtig und abwesend. Auf diese Weise erzeugen die verschmolzenen Bildwelten eine Art Vakuum, eine Art Null-Raum. Dieses Phänomen lässt sich nicht nur bei Jonathan Meese finden; seit einiger Zeit arbeitet eine ganze Generation (Daniel Richter, Peter Doig, Neo Rauch usw.) in diesem Sinne, weshalb ich den einmal von Andreas Koch lancierten Begriff der Nuller nun erstmals versuche zu fassen: Bei den Künstlern der Nuller-Generation geht es um ein zeitliches Nebeneinander, ein Zugleich, statt einem zeitlichen Nacheinander. Denn wir befinden uns derzeit in jenem geschichtslosen Zustand, den Michael Hardt und Toni Negri in ihrem Kultbuch „Empire“ deklarieren: „Geschichte ist suspendiert“ und der gegenwärtige Zustand für die Ewigkeit fixiert, im universellen und zeitlosen Raum. Das Vergangene kann nicht mehr vergehen, bleibt bestehen, bleibt für immer. Dieser Vorstellung folgend verläuft die Zeit nicht linear, was bedeuten würde, dass wir uns in einem merkwürdig vakuum-ähnlichen Zustand befänden, in einer Art dumpfen Hohlraum, indem die Ereignisse sich selbst akkumulieren und so eine Leere (Null-Raum) erzeugen.
Ist dieser Null-Raum nun identisch mit der Gegenwart und was genau bedeutet dann Gegenwart, wenn Vergangenes und Zukünftiges, in dem Sinne eines linearen Geschichtsablaufs, suspendiert werden? Fragen dieser Art stellen sich von selbst, denn so interpretiert wirkt das Diktum Hardt und Negris wie eine böse Verheißung aus einem Science-Fiction-Film, in dem alle zeitlichen Epochen von der Urzeit bis in die Zukunft gleichermaßen gegenwärtig sind, indem sie sich Überlagern, einander durchdringen, amalgamieren und so einander aufheben. Der Filmtitel „Zurück in die Zukunft“ verdeutlicht auf semantischer Ebene diese Unmöglichkeit/Zeitlosigkeit von Vergangenheit, indem die temporale Präposition „zurück“ ins Zukünftige führen soll; dieser Logik folgend müsste ein temporales „vor“ auf die Vergangenheit verweisen. Doch die Wortsemantik wird nicht einfach vertauscht sondern negiert sich in der Form, dass für beide Worte die gleiche Bedeutung möglich wird. Dieses sprachliche Experiment verdeutlicht jene Vorstellung, die dem Verständnis der Nuller-Generation zugrunde liegen könnte. Geschichte ließe sich dann reflexartig auf einer Folie erzeugen, dem Plot des Spielfilms folgend, komme es nur darauf an, welches Jahr man in die Zeitmaschine eingebe, schon verändere sich die Kulisse und damit auch das historische Ambiente. Anders als in dem Film ist der Startpunkt, von dem aus man jenes „vor“ oder „zurück“ wachrufen kann, nicht unbedingt die Gegenwart, vielmehr ist es jener Nullpunkt, den man beim vorwärts- oder rückwärts Spulen niemals verlassen wird. Historische Figuren und Symbole in die Gegenwart zu transferieren ist demzufolge gar nicht notwendig, schließlich sind sie, dem Geschichtsbild der Nuller-Generation folgend, ohnehin gleichermaßen gegenwärtig wie negiert. Auch verändert Nicht-Linearität das Empfinden und Wahrnehmen von Zeit: wir sehen sie fortan ohne Nostalgie, schließlich gibt es keinen Grund mehr das Vergangene zu betrauern. Was bleibt ist ein taubes und dumpfes, merkwürdig teilnahmsloses Sein, beinahe ohne Gefühl.
Wenn die Künstler der Nuller-Generation unter anderem das Repäsentationssystem des Fin-de-siècle nutzten, indem sie aus dem Repertoire aufgeladener Zeichen und Symbole zitieren, dann schaffen sie auf diese Weise eine Autonomie, denn die eigene Wirklichkeit des Werkes muss sich an den politischen und sozialen Verhältnissen nicht mehr messen lassen. Auf diese Weise wird das Fin-de-siècle zum „Fun-de-siècle“, wie Daniel Richter eines seiner Werke selbst nennt.