Olesens Arbeiten beschäftigen sich hauptsächlich mit der Auslotung von Identität, insbesondere der sexuellen Identität. In seiner Ausstellung Hysterical Men verwandelt er die bürgerlichen Beletage-Räumlichkeiten der Galerie Buchholz in einen vom Ansatz her labyrinthisch konzipierten Parcours, auf dem der Betrachter Martin Walser, Tony Blair, Monica Lewinsky, Dominique Strauss-Kahn und anderen Prominenten begegnet und sich außerdem über den diskursiven Zusammenhang zwischen Zahnbürsten, Kämmen, Polysexualität und Bügeleisen den Kopf zerbrechen kann.
Was einem zunächst als zutiefst verwirrendes Gesamtkonzept der Ausstellung entgegenspringt, sich aber gleich darauf als stringente, programmatische Differenziertheit herausschält, ist der Zusammenhang zwischen Hysterie und Sexualität. Diesen inhaltlich konfliktträchtigen, von geschlechterpolitischen Machtbeziehungen geprägten Diskurs findet man außerdem als ästhetisches Äquivalent in der Ausstellung wieder: Die bildungsbürgerliche Ästhetik der Galerieräume wird mit einer provisorischen, flüchtigen und unfertigen Baumarktästhetik durchkreuzt, was man ebenso als Kontrastierung zwischen bürgerlicher Heteronormativität und gesellschaftlich nicht erwünschter, schmerzhafter Identitätsfindung und Stigmatisierung von nicht Heterosexuellen verstehen kann.
Obwohl die Hysterie als Sammelbegriff weiblicher Beschwerden seit den 1950er-Jahren nicht mehr geläufig ist, hat diese unmittelbaren Eingang in die Alltagssprache gefunden. Hysterie ist nach wie vor weiblich konnotiert, mitunter als misogyne Abwertung. Männer sind nicht hysterisch, höchstens hypochondrisch. Selbst die Etymologie des Wortes Hysterie weist auf den weiblichen Uterus als Ursprung dieser Erkrankung hin. Bereits in der Antike entstand die aus heutiger Sicht bizarr und brutal paternalistische Erklärung, dass eine über einen langen Zeitraum unbesamte Gebärmutter die so genannte weibliche Hysterie erzeugen würde. Die Behauptung einer männlichen Hysterie verweist dagegen auf eine geheime Geschichte der Psychiatrie. Olesen greift genau dieses Tabu auf und erzählt es, mit zahlreichen Referenzen versehen, weiter.
Am Anfang der Ausstellung sieht alles noch ganz harmlos aus, allerdings stellen sich dem Betrachter unmittelbar darauf zutiefst verwirrende Fragen. Mit durchsichtiger Klebefolie auf den großen Wandspiegel im Eingangsbereich appliziert und schön schludrig schief, liest man die ersten Worte aus Robert Walsers Erzählung Der Spaziergang. Das klingt zunächst noch recht einladend und man kann sich ja auch noch mal seiner Selbst im Spiegel vergewissern; alles ist bis jetzt im grünen Bereich! Aber daneben klebt genauso schief eine Liste verschiedener sexueller Präferenzen: „1. Ambiguous Sex, 2. Self Sex, 3. Critical Sex, 4. Media Sex, 5. Discursive Sex, 6. Patriarchal Sex“. Man schaut sich im Spiegel an und soll sich möglicherweise selber dazu befragen. Die Dinge geraten aus dem Lot. Und was hat das mit Robert Walser zu tun? Vielleicht gar nichts! Oder ist der Spaziergang nur eine Metaebene, ein Leitmotiv, ein Ablenken vom eigentlichen Thema der Ausstellung? Soll man beruhigt durch die Ausstellung flanieren und sich selbst zerstreuen, so wie Walser auf seinen zahlreichen exzessiven Spaziergängen oder gar grantelnd Gehen (Thomas Bernhard, 1971). Man könnte also einfach weiter durch die Ausstellungsräume schreiten und womöglich fällt einem dabei ein, dass Walser die letzten 28 Jahre seines Lebens in einer Psychiatrie verbrachte, die damals noch Nervenheilanstalten hießen. Ist Robert Walser also ein hysterischer Mann gewesen?
Einer der wenigen engen Freunde, die dem eigenwillig schrulligen Walser wirklich nahe standen, war sein Mentor, der Kritiker und Verleger Carl Seelig, der nach eigener Aussage niemals schlau aus Walser geworden ist. So geht es auch dem Ausstellungsbetrachter. Zumindest kann man auf der ausgelegten „List of Works“ die einzelnen Exponate abhaken und fühlt sich nicht ganz allein gelassen. Das hilft aber auch nicht wirklich weiter, denn was soll man mit der Angabe, dass die Klebefolien 42 mal 29 cm messen? Ebenso wenig aufschlussreich ist die Erklärung der Galerie zur Ausstellung. Dies ist möglicherweise als Seitenhieb auf den Anspruch des Rezipienten gemeint, der alles erklärt und dargelegt bekommen will. Genauso verwirrend provokativ wirkt die mit Rigips verkleidete Tür im Flur, die wie ein Obi-mäßiger Hohn auf sämtliche bourgeoisen Tapetentüren wirkt und laut der „List of Works“ ein Wandschrank sein soll. Diesen hier kann man aber nicht einmal öffnen. Vielleicht stimmt die eigene Perspektive auch nicht und man muss einen anderen Blickwinkel einnehmen, den man aber erst einmal finden muss. Immerhin bekommt man das Angebot, durch die offene Tür direkt daneben zu gehen.
Man hat praktisch noch nichts gesehen und sitzt schon in einem heftigen Kopfkino. Wahrscheinlich hockt Henrik Olesen hinter der Rigipsplatte, beobachtet die Galeriebesucher und freut sich, dass sein Konzept aufgeht. Man ist also genötigt zu schauen, was sich auf der Rückseite befindet, denn das ist hier schließlich ein Spaziergang. Prompt läuft man wieder vor eine Wand, dieses Mal aber schön weiß verputzt. Weiß wie der Schnee, in dem Walser 1956 starb. Das ist dann doch etwas befremdend. Was erwartet uns also hinter der weißen Wand?
Endlich trifft man auf Menschen, aber nur als schief ausgeschnittene Schwarz-Weiß-Fotos, die auf einer überdimensionierten, an die Wand getackerten weißen Leinwand zu erraten sind. Wer ist also wer? Tony Blair, Monica Lewinsky und Dominique Strauss-Kahn erkennt man gleich. Bei Strauss-Kahn und Lewinsky liegt die Verbindung zum patriarchalen Sex irgendwie nahe. „Media Sex“ scheint aber auch angemessen. War da nicht doch was bei Tony Blair? Wurde ihm nicht vorgeworfen, er hätte eine Beziehung zu Rupert Murdochs Frau? In dieselbe Kategorie passt jedenfalls auch Berlusconis minderjährige Ex-Geliebte Ruby Rubacuori. Die sexuellen Vorlieben Strauss-Kahns und Berlusconis entwickelten sich jedenfalls zum Stolperstein innerhalb ihrer staatspolitischen Karrieren. Fast schon pikant mutet es dann an, wenn gleich daneben das Oberhaupt der katholischen Kirche zu sehen ist: Papst Benedikt und Franziskus bei der rituellen Fußwaschung. Über Kim Jong-un’s Sexualleben will man eigentlich lieber nichts Näheres erfahren – ihn findet man im Nebenraum. Doch wer ist die knabenhafte junge Frau, die mich, rein visuell, an niemand Bekannten erinnert? Eine kurze Nachfrage hilft mir dann doch auf die Sprünge: Brandon Teena, eine junge US-amerikanische Frau aus Nebraska, die als Mann leben wollte und dafür 1993 mit ihrem Leben bezahlen musste. Wer erinnert sich nicht an Hilary Swank in Boys don’t cry? Soweit wäre das Prominentenrätsel also gelöst, wären da nicht die Kämme, Zahnbürsten, Rasierer, Wasch- und Putzmittel, Fische sowie ein Pferdekopf. Der Fisch stinkt ja bekanntlich vom Kopfe her und dem kann man ja eventuell Abhilfe durch fleißiges Putzen schaffen. Päpstliche Fußwaschungen hatten wir ja schon. Bügeln könnte da vielleicht auch noch helfen. Eine reine Weste ist gebügelt schließlich umso schöner! Aber das kommt später. Es bleiben noch zwei schwarze Flecken, bzw. zwei Schwarz-Weiß-Bilder auf der sonst so reinlich weißen Leinwand; Hanne Darboven und der martialisch wirkende Ledermann, der mit nacktem Po auf einer Rennmaschine sitzt und irgendwie an Peter Marino erinnert. In einem weiteren Ausstellungsraum, in dem dem Betrachter erneut eine Hilfsreferenz geboten wird, lesen wir, dass der Autor von Polysexuality der kanadische Psychoanalytiker François Peraldi ist, der 1993 an Aids starb. Googelt man also den Titel Polysexuality, dann weiß man auch, wer der Mann auf dem Motorrad ist. Aber die verstorbene Hanne Darboven bleibt ein Rätsel.
Die Lösung liegt vielleicht in den Pappkartons – in Form von weißen T-Shirts mit popkulturell anmutenden Aufdrucken in Schwarz-Weiß-Siebdruck: nebst den bereits genannten sexuellen Ausformungen auch das Bügeleisen – ein Philips-Steamglide-Azur, toll! Welche Sexualität führe ich denn heute mal spazieren? Man darf hier also ganz postmodern eine Identität wählen! Das überfordert mich, ich möchte eigentlich nur noch ein weißes T-Shirt.
Während ich in Gedanken vor einem beruhigend weißen, klebstoffverschmierten Plexiglasbild (das tatsächlich in der Ausstellung hängt) ein Bügelbrett aufklappe, um dem Referenzchaos in meinem Kopf Herr oder Frau oder sonst was zu werden, kann ich über die Brutalität, die hinter der Geschlechterheteronormativität liegt, weiter sinnieren und über die bürgerliche Gesellschaft als Quelle der Geschlechternormierung granteln sowie eine Referenzliste zur Ausstellung anlegen, damit ich nicht hysterisch werde. Vielleicht gehe ich aber auch in den Wandschrank, dessen Tür ich dann doch noch gefunden habe, lege die gebügelten T-Shirts fein säuberlich hinein und schaue nach, ob Henrik Olesen dort sitzt – oder der Geist Robert Walsers, der mir folgende Worte über den Charakter des Künstlers zuflüstert: „[…] dass er nie zur Sicherung oder Verunsicherung seiner selbst gelangt, scheint sein Los“ (Robert Walser, 1909).
P.S. @Henrik Olesen: Wegen Kim Jong-un würde ich die Liste gerne noch um Dictatorial Sex ergänzen.
Henrik Olesen „Hysterical Men“, Galerie Buchholz,
Fasanenstraße 30, 20.9.–23.11. 2013
Literatur:
Balke, Friedrich: Schneewittchens Rückkehr, in: Cargo, Dez. 2013–Febr. 2014, S. 64–68, Berlin.
Echte, Bernhard (2008): Robert Walser – Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt a. Main.
Lerner, Paul (2003): Hysterical Men, Ithaca, NY.
Micale, Mark S. (2009): Hysterical Men.The hidden history of male nervous illness, Cambridge, MA.
Niccolini, Elisabetta (2000): Der Spaziergang des Schriftstellers, Stuttgart, Weimar.
Ortmanns, Gudrun (2010): Das Berlin des Robert Walser, Berlin.
Seelig, Carl (1989): Wanderungen mit Robert Walser, Leipzig.
Walser, Robert (1967): Der Spaziergang. Ausgewählte Geschichten. Zürich.
Filme:
Der Gehülfe (1975), Thomas Koerfer.
Der Vormund und sein Dichter (1978), Percy Adlon.
All this can happen (2012), Siobhan Davies & David Hinton.