Das Phänomen Valeska Gert fasziniert und irritiert zugleich. Ihre Konzeptionen von Tanz und Schauspiel waren wegbereitend für die Entwicklung des Ausdruckstanzes und des Theaters der Avantgarde. Und trotzdem ist sie heutzutage weitgehend unbekannt.
Das war allerdings nicht immer so. In den 1920er und 1930er Jahren war sie einem breiten Publikum durchaus geläufig. Von den einen abgelehnt als „Bürgerschreck“, wurde sie von den anderen bewundert und gefeiert. Sie verkehrte in Künstlerkreisen mit Bertolt Brecht und Sergej Eisenstein. Wie kann es sein, dass sie dennoch nahezu aus unserem kulturellen Gedächtnis verdrängt wurde?
Der Begriff der „Neuen Frau“ der 1920er Jahre – ein emanzipatorischer Entwurf, der sich in der Realität hauptsächlich in äußerlichen Merkmalen niederschlug, zum Beispiel einem Kurzhaarschnitt als Ausdruck von Selbstbestimmung und Negierung tradierter Rollenbilder – sollte beispielsweise die sexuelle, finanzielle, rechtliche und persönliche Unabhängigkeit der Frau der Nachkriegszeit aufzeigen. Während dieses Konzept für den Großteil der weiblichen Bevölkerung ein Ideal blieb, lebte Gert in den zwanziger Jahren diesen expressiven, skurrilen und eigenständigen „Typus Frau“.
Sie unterschied sich von ihren zeitgenössische Kolleginnen wie Mary Wigman, die durch fließende Bewegungen und mystische Thematiken das Bindeglied zwischen Innovation und Tradition darstellte. Mit ihrer „absoluten“ Darstellungsweise, die weder Tanz noch Schauspiel noch Performance allein war, ging Gert an die Grenzen des Darstellbaren. In einer Mischung aus scharfer Beobachtung, besonderem Einfühlungsvermögen und situationsabhängiger Intuition, beschäftigten sich ihre Arbeiten vor ihrer Emigration in die USA 1939 insbesondere mit Thematiken, die die zwanziger Jahre versinnbildlichen: Sie stellte den „Anti-Bürger“ in Form der Darbietungen „Canaille“ oder „Kupplerin“ dar, „tanzspielte“ das Tempo der Großstadt bzw. die Hast der Zeit in „(Berliner) Verkehr“ oder in „Nervosität“ – um uns darauf in „Tod“ mit dem Thema der Vergänglichkeit zu konfrontieren.
Gert agierte gleichsam als personifizierte Übertreibung und Zuspitzung der Diskrepanzen und Zerrissenheiten zwischen Tradition und Zeitgeist, zwischen Anonymität und Geborgenheit, zwischen Vorwärtsdrängen und Verharren, was Gerts Arbeiten heute immer noch aktuell erscheinen lässt.
Es liegt auf der Hand, dass das Nazi-Regime Gerts, mit keinen Konventionen zu vereinbarendes Auftreten, nicht akzeptierte. Nach 1933 wurde ihr als jüdischer, „entarteter“ Künstlerin die Auftrittsberechtigung entzogen, woraufhin sie sich ab den dreißiger Jahren in Frankreich, England und den USA aufhielt. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland zu Beginn der 50er Jahre sah man sie in unterschiedlichen Filmen wie beispielsweise in „Julia und die Geister“ von Federico Fellini oder in „Der Fangschuss“ von Volker Schlöndorff, in dem Gert sich in die Rolle der verrückten Tante Praskovia begab. Außerdem machte sie sich als Kabarettistin in Berlin und als Lokalbesitzerin auf Sylt einen Namen. Eben diese Valeska Gert wird bis zum 10. April in der Ausstellung „Pause. Valeska Gert: Bewegte Momente“ im Hamburger Bahnhof in Berlin für die Öffentlichkeit wiederentdeckt. Die Ausstellung findet anlässlich der Buchveröffentlichung „Valeska Gert: Ästhetik der Präsenzen“ von Wolfgang Müller statt, welcher unter anderem als Mitglied der Musikband und Performancegruppe „Die tödliche Doris“ aus den 1980er Jahren bekannt ist.
Im Obergeschoss des Hamburger Bahnhofs werden einige der wenigen verbliebenen Werke Valeska Gerts in Verbindung mit Arbeiten von Valie Export oder Marcel Duchamp präsentiert. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf eine Performance von Gert in den zwanziger Jahren, in der sie in der Pause einer Kinovorstellung anstatt einer kurzweiligen Unterhaltungsaufführung vielmehr selbst eine Pause darstellte – starr und stumm ausharrend, konfrontierte sie so den Betrachter mit dem Moment des Innehaltens. Für eine kurze Dauer veränderte Gert im Kinosaal die Geschwindigkeit der Zeit. Diese direkte Konfrontation mit ihren eigenen Erwartungshaltungen stellte für die Mehrheit der Zuschauer eine Herausforderung, wenn nicht sogar Überforderung dar. In der Ausstellung selbst wird die „Pause“ in einem zurückliegenden hinteren Raum aufgegriffen. In einer Videoarbeit sieht man Müller zum Buchschrank gehen, ein Buch bei der Abbildung einer Fotografie von „Pause“ aufschlagen und mit der Kamera darauf verharren. Eine kurze Erläuterung der „Pause“ würde den Besucher wohl weit mehr aufklären, als eine Performance über eine Performance es zu tun vermag. Ein weiterer Raum der Ausstellung ist zudem ausschließlich mit Arbeiten von Künstlerinnen bestückt, was wahrscheinlich nur der wachsame Betrachter auszumachen weiß. Steht dahinter die Idee, dass Gert als „Neue Frau“ die etablierte Rolle der Frau dekonstruierte, oder dass „weibliche“ Kunst generell die gleiche Anerkennung verdient wie „männliche“ Kunst? Da es weder zeitliche Übereinstimmungen der Arbeiten zu Gerts Schaffen, noch thematische Assoziationen gibt, scheint dieser Ansatz angesichts der Bandbreite der Gertschen Arbeitsweise und ihrer Person an sich sehr beliebig.
Die Ausstellungssituation selbst ist ebenso wenig in ihrer Konzeption vollständig durchdacht, wie auch bestimmte Ansichten, die Müller in seinem Buch postuliert. Pamphletartig kritisiert er hierin die konforme Entwicklung der Gesellschaft im Gegensatz zu der Authentizität und Einmaligkeit einer Valeska Gert. Die Tatsache, dass ihr Schaffen weitestgehend in Vergessenheit geraten konnte, schreibt er ihrem Geschlecht und dem auch heute noch schweren Stand weiblicher Künstlerinnen im Kunstgeschehen zu.
Dass sie im heutigen Kanon kaum zu finden ist, bedingte neben ihrem Geschlecht sicherlich auch ihre extreme Arbeitsweise sowie ihre Haltung zum Erfolg und zum Kunstmarkt, die sie folgendermaßen formulierte:
„Ich hab immer die Dinge abgeschmissen in demselben Moment, wo die Dinge Erfolg gehabt haben. […] im selben Moment, wo’s plötzlich ganz hoch ging, da bin ich abgezogen. Ich hab ein Bedürfnis immer wieder von vorne anzufangen.“
Das eben ist Valeska Gert – sie lässt sich nicht „festhalten“ oder zuordnen. Insgesamt vermisst man Hintergründe und Zusammenhänge des Gertschen Œvres in der Ausstellung. Vielmehr werden dem Besucher Kontexte und Ideen geboten, die weit mehr auf den Kurator Müller zurückzuführen sind und mit denen die Ansprüche einer Künstlerin wie Valeska Gert, die sich stets der Kategorisierung oder Kontextualisierung entzog, wohl kaum vereinbar sind.
Dem in der Ausstellung spärlich zusammengetragenen Material hätten keine weiteren Künstler/innen zur Seite gestellt werden sollen. Stattdessen hätten zum Verständnis der Künstlerin weitere Sequenzen ihres Schaffens in den zwanziger Jahren genützt. Denn Valeska Gerts Werk spricht für sich und käme weit besser ohne weitere persönliche Interpretationen von Kuratoren aus.
Die in der Ausstellung präsentierte Videoarbeit „Baby“, die Gert als Doppelakteurin sowohl eines Säuglings als auch seiner Amme zeigt, ist eine Kostbarkeit. Da Gerts Hinterlassenschaften dem Einzelnen schwer zugänglich sind, lohnt ein Besuch der Ausstellung also schon allein für diesen und andere filmische Auftritte wie beispielsweise als „KZ-Kommandeuse Ilse Koch“.
Zusammenfassend ist der Ausstellung im Hamburger Bahnhof zwar die Passion des Initiators Wolfgang Müller anzumerken. Sie bietet jedoch nur einen winzigen, von gut gemeinten Ansprüchen verstellten Blick auf die Vielfalt des Gertschen Œuvres. Beim neugierigen Betrachter kann sie dennoch ein Interesse an dieser schillernden und bedeutsamen Künstlerin wecken und als Anstoß zur weiteren Auseinandersetzung mit Valeska Gert dienen, die eine tiefere, persönliche Recherche unbedingt wert ist.
Valeska Gert „Pause. Valeska Gert: Bewegte Fragmente“, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin, 17.9.2010–10.4.2011