Schübel / Wie hat sich Dein Netzwerk im Laufe der Jahre verändert? Jan Winkelmann / Dazu muss ich ein wenig ausholen, um die unterschiedlichen Stationen meiner beruflichen Laufbahn zu erläutern. Bis zu meiner ersten größeren Ausstellung „Tiefgang. Bildräume im Schlossbunker“ im Jahr 1992 hatte ich das Networking eher intuitiv und wenig zielgerichtet betrieben. Mit „Tiefgang“ änderte sich das. Roland Scotti und ich entwickelten die Idee für ein Ausstellungskonzept, bei dem wir Kuratoren baten, uns jeweils ein bis zwei Künstler vorzuschlagen, deren Werk sie für wichtig und innovativ halten. Ausgangspunkt für die Idee war der Ausstellungsort, ein Tiefbunker aus dem Zweiten Weltkrieg unter dem Mannheimer Schloss gelegen, der aus über 60 ähnlich großen Räumen besteht. Die Ausstellung war ein großer, überregionaler Erfolg und einige der damals Beteiligten trifft man im Kunstbetrieb heute noch: so zum Beispiel Friedemann Malsch, Friedrich Meschede oder Beatrice von Bismarck und bei den Künstlern Monika Brandmeier, Mark Formanek, Tamara Grcic, Dieter Kiessling und Thomas Eller. „Tiefgang“ war zwar nicht meine erste Ausstellung, aber meine bislang größte. Ich hatte mir sozusagen meinen eigenen Praktikumsplatz geschaffen und das freelance curating von allen positiven wie auch negativen Seiten kennengelernt.
Schübel / 1994 warst Du dann einer von sechs Teilnehmern des ersten Jahrgangs des Curatorial Training Program der De Appel Foundation in Amsterdam. Winkelmann / Das war eine unheimlich spannende Zeit. Gleich am ersten Wochenende sind wir nach Paris geflogen, um Harald Szeemann in seiner Beuys-Ausstellung im Centre Pompidou zu treffen. Er gab uns eine private Führung. Das war natürlich ein Hammer. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer nur von und über ihn gelesen und plötzlich verbrachten wir Zeit mit ihm, konnten Fragen stellen und bekamen darauf auch Antworten. Im Laufe der kommenden neun Monate haben wir eine ganze Reihe weiterer interessanter Gesprächspartner gehabt: Chris Dercon, Rudi Fuchs, Lawrence Weiner, Remy Zaugg, um nur einige wenige Namen zu nennen. Am Ende des Programms kuratierten wir dann unsere eigene Ausstellung. SHIFT zeigte ortsspezifische Arbeiten von 14 Künstlern, u. a. Douglas Gordon, Pierre Huyghe, Rirkrit Tiravanija.
Schübel / Im Anschluss bist Du wieder zurück nach Mannheim gezogen? Winkelmann / Genau, ich wollte ja zunächst an der Uni Heidelberg promovieren. Kurz nach meiner Rückkehr aus Amsterdam bekam ich jedoch eine Einladung, eine Ausstellung in Singen am Bodensee zu kuratieren. Keine leichte Aufgabe, denn der Ausstellungsort war ein altes Umspannwerk, das nicht mehr in Betrieb war, für eine Ausstellung also denkbar ungeeignet. Überall fanden sich Spuren der früheren Nutzung, wie Kabelstränge, Transformatoren, Schaltwände usw. Ich reiste wieder ab und erst ein paar Tage später kam mir dann die rettende Idee: „fast nichts – almost invisible“ sollte eine Ausstellung werden, die die Dominanz des vorgegebenen Raumes subtil untergräbt, indem sie Werke zeigte, die man als solche nicht wahrnahm. Auf einer zehn Meter langen Wand hingen drei Fotoabzüge von Anatolij Shuravlev, jede nur 9 × 7 Milimeter groß. An einem übermalten Feuerlöscher von Bertrand Lavier gingen die meisten Besucher ebenso achtlos vorbei, wie an einem aus Polyurethan geschnitzten „Kleinen Kübel“, einer Skulptur von Fischli & Weiss. Auf dem Tisch lag ein Brief mit einer Briefmarke. Der Absender war Andreas Slominski und die Briefmarke von einer Giraffe abgeleckt. Erwin Wurm zeigte eine Staub-Skulptur, Karin Sander hatte ein Stück Wand auf Hochglanz poliert, und weiteres mehr. Du siehst, auf welch unterschiedliche Weise sich die Arbeiten an den Ausstellungsort angeschmiegt haben und deshalb wenig sichtbar waren. Nach der Eröffnung verwendete ich sehr viel Zeit und Energie darauf, so viele Kommunikatoren wie möglich nach Singen zu bringen. Mir war klar, dass diese Ausstellung abseits aller Trampelpfade der zeitgenössischen Kunst nur soweit bekannt werden würde, wie darüber gesprochen und geschrieben wird. Die Mühe hat sich gelohnt, es gab sehr gute Presse und viele Leute sprachen über die Ausstellung, auch ohne sie gesehen zu haben.
Schübel / Wie kamst Du dann nach Leipzig? Winkelmann / Nach dieser Ausstellung wollte ich mich dann endlich um meine Promotion kümmern. Ich zog aus privaten Gründen nach München und begann meine Doktorarbeit mit dem Titel „Der Kurator. Die Genese eines Berufsbildes von Harald Szeemann zu Hans-Ulrich Obrist“ zu schreiben. Kaum hatte ich jedoch alle meine Bücherkisten ausgepackt, bekam ich einen Anruf aus Leipzig. Ich sei für die Stelle des Kurators der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig vorgeschlagen worden. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass man mich empfohlen hatte, glaubte gleichzeitig aber nicht dran, die Stelle tatsächlich zu bekommen. Ich sollte mich irren. Wenige Monate später zog ich nach Leipzig. Die GfZK wurde im Mai 1998 als das erstes neu gegründetes Museum in den Neuen Bundesländern unter großer medialer Aufmerksamkeit eröffnet. Der Kunsthistoriker Klaus Werner und der Industrielle Arend Oetker hatte die Idee, eine Institution für zeitgenössische Kunst in Leipzig zu gründen, über die Dauer von fast zehn Jahren beharrlich verfolgt. Meine Aufgabe war es, eine programmatische Eröffnungsausstellung mit jungen Positionen zu kuratieren und die Institution mit einem avancierten Programm im internationalen Institutionskontext zu verorten. Das haben wir in relativ kurzer Zeit erreicht, indem wir mit namhaften Institutionen Ausstellungskooperationen initiiert haben. So produzierten wir bspw. mit Susanne Gaensheimer (damals Westfälischer Kunstverein Münster) und Katia Baudin (damals Frac Nord-Pas de Calais) eine Ausstellung von Tobias Rehberger. Zusammen mit Annelie Pohlen (damals Kunstverein Bonn) und Dirk Snauwaert (damals Kunstverein München) haben wir eine Ausstellung von Heimo Zobernig gezeigt. Mit Beatrix Ruf (Kunsthalle Zürich) die Ausstellung von Ugo Rondinone, und mit dem Siemens Kulturprogramm „Moving Images“, eine Ausstellung zu kinematographischen Aspekten in der zeitgenössischen Kunst. Wir hatten mehrere Vortragsreihen gelauncht, u. a. gab es eine Reihe, bei der wir Kuratoren einluden, über ihre Arbeit zu sprechen. Klaus Biesenbach sprach über die Berlin Biennale, Okwui Enwezor über die Documenta und Udo Kittelmann über seine Arbeit damals noch im Kölnischen Kunstverein. Daneben war es ein Ziel, junge Künstler früh mit interessanten Ausstellungen zu zeigen. So habe ich bereits 1998 Olafur Eliasson mit einer seiner ersten institutionellen Einzelausstellungen gezeigt. Elmgreen & Dragsets Ausstellung „Zwischen anderen Ereignissen“ war in mehrfacher Hinsicht eine Art Durchbruch für die beiden. Martin Eder hat unser Atelierstipendium bekommen noch bevor er von EIGEN+ART entdeckt wurde. Und ganz aktuell: Sarah Sze, die Amerika auf der nächsten Venedig Biennale vertreten wird, hatte ich 1999 eingeladen, um eine ortsspezifische Arbeit im Treppenhaus zu installieren. Die Arbeit hängt dort immer noch.
Schübel / Wie kam es zum Aufbruch nach Berlin? Winkelmann / Die Anfangsjahre waren sehr spannend, aber mit dem Wachsen der Institution sah ich mich auf Dauer ein wenig von der inhaltlichen Arbeit entfremdet. Es kamen immer mehr administrative Aufgaben auf mich zu und die Beschäftigung mit künstlerischen Inhalten nahm ab. Ich dachte mir, wenn ich irgendwann mal eine eigene Institution übernehmen sollte, dann wird das ja noch viel mehr: mehr Organisation, mehr Repräsentation, mehr Fundraising, mehr Sponsoring und alles in allem viel weniger von dem, worauf es mir eigentlich ankommt: die kuratorische Arbeit. Also habe ich mich entschlossen, die Seiten zu wechseln. Ich zog nach Berlin und eröffnete eine Galerie.
Schübel / Und auch hier warst Du wieder einer der ersten, 2003 mit Standort in der Brunnenstraße. Winkelmann / Galerien gab es ja schon genug, nur eben nicht in der Brunnenstraße. Klara Wallner wusste, dass ich Räume suchte und machte mich auf eine alte Schlosserei bei ihr im Hinterhof aufmerksam. Wir eröffneten fast zeitgleich und waren überrascht zu sehen, dass ein Jahr später junge Produzentengalerien wie Amerika und Diskus in unmittelbarer Nachbarschaft eröffneten. Wir haben dann unsere Kräfte gebündelt und zusammen ein wenig Marketing gemacht, unsere Eröffnungen koordiniert und ein Sommerfest bei uns auf dem Hof initiiert. Plötzlich war die Brunnenstraße eine Art Label für junge noch nicht etablierte Kunst. Nachdem in der New York Times ein Artikel über die Galerien in der Brunnenstraße erschien, kamen nicht nur mehr internationale Besucher, sondern auch mehr Galerien, die am Brunnenstraßen-Hype partizipieren wollten. Das war dann gleichzeitig auch der Wendepunkt. Es gab dort dann irgendwann mehr als 20 Galerien. Ben Kaufmann ist als erstes gegangen, Klara dann als nächstes. Im März 2008 habe ich meine geschlossen. Ich hatte das Gefühl, mich verändern zu müssen, nachdem ich merkte, dass der Job des Galeristen letztlich doch nicht das richtige für mich ist.
Schübel / Jetzt bist Du der Kopf hinter „EYEOUT the mobile art guide“, einer Kunstführer-App für das iPhone. Wie kam es dazu? Winkelmann / Nachdem ich die Galerie geschlossen hatte, brauchte ich ein wenig Zeit, um mich neu zu erfinden. Erst Kurator, dann Galerist: Was kommt nun? Ich denke nicht in Jobprofilen und -kategorien und sehe mich eher als Profi im Kunstbetrieb, der in wechselnden Rollen unterwegs ist. Als das iPhone 2007 gelauncht wurde, spürte ich, dass dort etwas Neues mit viel Potenzial entsteht. Vielleicht vergleichbar mit dem Aufkommen der Mobiltelefone. Das mobile Internet wird immer schneller, günstiger und damit omnipräsenter. Ich dachte mir, das ist doch spannend bei so einer Entwicklung früh dabei zu sein und dort in einem bestimmten Bereich die Standards mit zu setzen.
Schübel / Ich möchte noch einmal auf meine Ausgangsfrage zurückkommen: Wenn Du nun zurückschaust, wie haben sich Deine Netzwerke über die Jahre verändert. Winkelmann / Ganz dynamisch haben sie sich meinen jeweiligen Rollen angepasst. Vor der Ausstellung „Tiefgang“ war der Fokus doch eher lokal, mit der Ausstellung wurde er überregional und weitete sich auf ganz Deutschland aus. Während meiner Zeit in Amsterdam gab es einen deutlichen Schub hinsichtlich Professionalisierung und Internationalisierung. Und mit meiner Tätigkeit in Leipzig haben sich meine Kontakte noch einmal deutlich erweitert. Durch den Schritt zum Galeristen ergab sich eine Verschiebung: Das institutionelle Netzwerk nahm an Bedeutung ab, zugunsten eines neuen Netzwerks zu Sammlern und Galerien. Durch EYEOUT ergab sich noch einmal eine Akzentverschiebung weg von den Künstlern wieder hin zu institutionellen Strukturen und eine Erweiterung in eine für mich neue Richtung, außerhalb der Kunst. Im Grunde genommen wächst es stetig, die Akzente verschieben sich aber, je nachdem, welche Rolle ich gerade einnehme. Manches passiert völlig überraschend, bspw. dass Kontakte nach zehn Jahren Funkstille plötzlich wieder wichtig werden und der Faden aufgenommen werden kann, als ob zwischendrin keine Zeit vergangen wäre. In anderen Fällen sind keine Anknüpfungspunkte mehr vorhanden, weil sich die inhaltlichen Prioritäten verschoben haben und selbst enge freundschaftliche Kontakte versanden daraufhin. Letztlich habe ich das Netzwerken nie vordergründig strategisch, als Mittel zum Zweck verstanden, sondern habe immer versucht, eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten herzustellen. Meistens ist mir das auch ganz gut gelungen.