Pünktlich um Zwölf Aufschlag in der ausgedienten
Hangar-Halle des ehemaligen Hitlerflughafens Tempelhof. Preview Berlin –
The Emerging Art Fair. „Berlin!“ zuckt es unwillkürlich beim Betreten
des Ortes durch den Kopf: Industrie! Militär! Geschichte! Grobschlächtige
Betonpfeiler, kathedralisch hohe Decken und sich in den Raum fressende
Röhren. Genau die Art von Zwischennutzung, die das Geschäft mit der Kunst
beflügelt. Über dem Catering-Bereich schwebt auch noch ein
Rosinenbomber-Modell. Natürlich, zu Zeiten der Luftbrücke lief die
Versorgung des abgeriegelten Westberlins über diesen Airport. Sechzig
Jahre später: neue Hoffnung auf die Amerikaner. Allerdings auf die Sammler,
nicht die Piloten. An der Messe-Bar gibt es Disco-Tee. „Sehr deep“ – so das Personal. Ein
passendes Geräusch dröhnt aus dem Inneren der Messe. Schon im Eingang hört man es sachte, erst
ein unscheinbares Brummen, dunkel und murmelnd, von dem man
unwillkürlich angezogen wird. Es tönt wie ein Luftfahrtgeräusch aus alter Zeit.
Bei dem Sound handelt sich um die Tonspur der
Videoarbeit der kasachischen Künstlerin
Almagul Menlibayeva, bei Davide Gallo. Vor der dramatischen Kulisse
einer geplatzten brennenden Ölpipeline in der eurasischen Steppe rollen
drei nackte langhaarige Menschen Tierschädel vor sich her und beschwören
mit schamanischen Tänzen das Ende der Katastrophe. Hypnotic.
In der Koje von Realace Fine Arts (Wilhelmstrasse), dem
ersten echten hauptstädtischen Kunst-Unternehmen mit Nuller-Dekaden-Philosophie,
flammen erneut Diskussionen über den weiteren Verlauf des Tages auf. Doch zur Vorbesichtung
des Art Forums? Kurzes Zögern. Nein, zurück nach Mitte. Aber vor dem Exit
noch schnell noch die Stände der Brunnenstraßengalerien Metro, Birgit
Ostermeier und Nice & Fit bestaunen. Wahnsinn: Sogar Arne Linde ist
mit ihrer Ausnahmegalerie ASPN von Leipzig nach Berlin gekommen. Obwohl
erst früher Nachmittag, füllt sich die Halle jetzt blitzartig mit
kunsthungrigen Besuchern. Wir müssen weg hier. Gegen den Strom, Richtung
Mitte.
Wenig später: wie ausgestorben
liegt die Linienstraße im trüben Herbstlicht. Angenehm leer ist auch das
sonst überlaufene In-Lokal „5 Flavor“ direkt am Rosenthaler Platz. Gut
für einen Imbiss vor der langen Fahrt nach Wedding. Nur jetzt ist auch
Zeit für Lektüre. In der aktuellen Vanity Fair: Sebastian Frenzel über die
unglaublichen Pamela Anderson-Fotos der New Yorker Künstlerin Marilyn Minter.
Kurz darauf sind wir schon wieder unterwegs: die Brunnenstrasse immer höher,
vorbei am Gesundbrunnencenter, bis wir schließlich vor dem Ensemble
mehrerer Industriebauten im Sachlichkeits-Stil der späten Zwanziger stoppen.
Vor kurzem wurden hier noch die Busse der BVG gewartet. Jetzt herrscht die pure
Euphorie des vierten Kunstsalons, dem Großtreffen der Independent-Szene.
Schon vor den schmiedeeisernen Toren: ausgelassene
Tag-der-offenen-Tür-Atmosphäre. Auch drinnen: Menschenmassen, kein zügiges
Vorankommen. Am Stand der Anonymen Zeichner verschärft sich das Gedränge der
Kaufwilligen. Wer den symbolischen Einheitskaufpreis von 150 Euro
bezahlt, nimmt nicht nur eine der vielen superben Zeichnungen mit, sondern
erfährt auch den geheimgehaltenen Namen des Urhebers. Gerade lässt sich wieder
jemand einen Packen Blätter einpacken.
Längst stehen wir schon wieder vor einem Videomonitor.
Diesmal ist es die fesselnde Videoinstallation „Nationalgalerie /
National Gallery“ (2006/07) von Berit Hummels am Stand der Produzentengalerie
Stedefreund. Auf dem Weg nach draußen fällt uns noch eine große Menschentraube
bei A trans Pavilion auf. Jeder hier will wenigstens einen kurzen Blick auf Michael
J. Birns spektakuläres Architekturmodell „Der Berliner Lustgarten 2057“
erhaschen. „Ein dystopisches Highlight“ flüstert ein junger Mann in
unserer Nachbarschaft ehrfürchtig. Schnell kommen wir ins Gespräch und
beschließen, gemeinsam auf einen Kaffee ins nahe gelegene „La Femme“ zu
verschwinden.
Starker Regen macht
nun jede größere Tour unmöglich. Wichtige Stationen fliegen aus der Route raus.
Sogar das frische Galerienhaus in die Kreuzberger Lindenstrasse und das
Kunstzentrum am Rosa-Luxemburg-Platz sind plötzlich unerreichbar.
Notprogramm: DuveKleemann, die neue Galerie an der Invalidenstraße. Die
Eröffnungsausstellung ist dem Fotokünstler Ali Kepenek gewidmet. Umgeben
von schönen großen Jungs bewundern wir Fotos von schönen großen
Jungs. Es bleibt nicht viel Zeit. Drüben im Hamburger Bahnhof wird der Preis
der Nationalgalerie für junge Kunst verliehen. Pünktlich um zwanzig
Uhr betreten wir das Sammlermuseum und kommen für die nächsten vier Stunden
nicht wieder heraus. Nach Mitternacht hört es endlich auf zu regnen. Sofort
geht es zur CSA-Bar auf der Karl Marx Allee, wo die Galerien Adamski und
Nagel den Tag in minimalem Ambiente bei minimaler Musik beenden. Obwohl:
„Das geht noch viel minimaler“ behauptet Romi, die Plattenauflegerin.
Erste Müdigkeit macht sich bemerkbar. „So hatte ich
mir meinen Vorwärmtag nicht vorgestellt“, erklärt unsere schon leicht
derangierte Kunstsalonbekanntschaft, „ich dachte, ich geh zur Preview,
dann abends ein paar Galerieeröffnungen und um zehn Uhr bin ich im Bett.“
Trotzdem muss vor der endgültigen
Verabschiedung unbedingt noch gemeinsam geprüft werden, ob im KIM an der
Brunnenstraße tatsächlich „noch was ist“.
Inmitten des aufgekratzten Gewühles auf dem grauen Rosshaar-Teppich
des Art Forums beherrschen wir am nächsten Tag trotz Kater den
Messeslang dann perfekt: Ja ja, die vielen Skulpturen vom letzten Jahr sind
verschwunden und überhaupt alles hier ziemlich brav und vorhersehbar!
Selbst die Paris Bar auf der Kantstraße ist noch immer fest in
der Hand der CFA-Künstler! Ganz anders als bei der stark frequentierten,
abendlichen Feier in der weitläufigen, überaus barocken Charlottenburger Loftetage
des Sammlerpaares Manuela Alexejew und Carlos Brandl, durch die die Anwesenden in perplexer Stille mit
einem Glas Champagner rosé wandeln. Zuletzt landen wir im Crackers,
Cookies neuen Club.
In der Mitte des überfüllten Raumes geht es weder vor noch zurück. Der über die
Tage antrainierte Blick, der nicht verweilen darf, der
keinen Halt findet, der ziellos geradeaus gerichtet, sich im Nichts verliert
und doch alles aufnehmen muss – er bleibt nun haften
auf der bildlosen Wand der Garagendisco. Ekstatisch kollabieren wir im Moment der Stagnation.