Selbstorganisierte Kunsträume boomen. Kein Tag vergeht, an dem nicht neue gegründet werden, während sich andere schon wieder auflösen. Aktuell weit über 1000 bundesweit. Mit hoher Wachstumsrate, Fluktuation und immer globaleren Netzwerken erreichen sie zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Zugleich agieren die meisten auf einem Low- oder No-Budget-Niveau und investieren mehr Zeit und Geld, als sie erwirtschaften oder durch Fördermittel abdecken können. Dass sich Raumnutzungen, Teamkonstellationen und Organisationsformen immer wieder verändern, macht die Verwirrung komplett, die Netzwerke allerdings umso vielschichtiger. Ihre Markenzeichen: Vielfalt, Popularität und Prekarität.
Projektraum, Off-Raum, Artist-Run-Space, Produzentengalerie Die Terminologien wuchern und wechseln wild je nach Standort und Szene – schließlich will man einzigartig sein und sich jeder Kategorisierung entziehen. Vor allem aber erfordern externe Erwartungshaltungen eine adressatengerechte Vermittlung: Will man Fördergelder, ist man gemeinnütziger Verein – bevorzugt man die unternehmerische Variante, eher eine Produzentengalerie im GbR-Format. Mischformen kombinieren beides miteinander. Rechtsformfreie Gruppen wiederum verweigern sich jeglicher Förderung oder halten sich die Quellen vorerst offen. So oder so ist man auf jeden Fall: unabhängig. Weitere Attribute: alternativ, kollektiv, vernetzt, interdisziplinär, projektförmig, anti-institutionell, nicht-kommerziell, experimentell, subkulturell, hybrid, temporär, jung, (noch) nicht etabliert. Ich nenne sie erst einmal „Produzentenräume“. Weil mir die Unterscheidung zwischen kommerziell und nicht-kommerziell, on hier und off dort, widerstrebt. Sie taugt nicht für einen zeitgemäßen Vergleich, weil viele heute alles zugleich praktizieren: Selbstreflexion, Intervention, Diskussion, Messepräsenz und – ja auch: Verkauf. Attribute wie off, alternativ, unabhängig und artist-run sind damit erleichternder Weise eliminiert. Flashbacks: Die Kunstgeschichte ist weitaus weniger eine lineare Abfolge einzelner Künstlergenies als eine netzwerkförmige Matrix selbstorganisierter Kollektivformen. Spätestens im 19. Jahrhundert wird der Künstler zum Solitär. Er bezahlt seinen Freiheitsgewinn mit einem Zuwachs an sozialer Labilität, Konkurrenz und eines verschärften Rekurses auf sich selbst. Reflexartige Reaktionen darauf: Do-it-yourself-Teambildungen. 1809: Aus Unzufriedenheit mit den erstarrten Ausbildungsriten schließen sich sechs Wiener Akademie-Studenten zur „St. Lukas-Bruderschaft“ zusammen. Die romantisch-religiösen Nazarener ziehen mit ihrem Anführer Friedrich Overbeck nach Rom in ein Kloster, um sich ganz ihrer Kunst zu widmen und weitere Mitstreiter zu gewinnen. Der Wandel von der Kleingruppe zum Netzwerk birgt auch hier schon die Gefahr von Differenz, Konturverlust und führt schließlich zur Auflösung. In der Folgezeit suchen unzählige Künstlerkolonien (Barbizon, Worpswede & Co) mit Stadtflucht und Pleinair die Synthese von Kunst, Natur und Leben.
1855: Gustave Courbet errichtet den „Pavillon du Réalisme“ und gründet einen der ersten temporären Artist-Run-Spaces mit einer Solo-Show, in der er neben den offiziell auf der Pariser Weltausstellung gezeigten Werken 40 weitere präsentiert. Cleverer Marktstratege und Verteidiger selbstorganisierter Autonomie zugleich: Bourdieu-Sensible wie Isabelle Graw entdecken bereits hier Symbol- und Marktwert in strategischer Eintracht. Flächenbrand im Zeitraffer: Mit dem „Salon des Refusés“, „Salons des Independants“ und europaweiten Secessionen folgen Unmengen an Vorläufern heutiger Satellitenmessen per Selbstorganisation. Die hier Aktiven etablieren sich mit der Zeit, positionieren sich in Jurys und im Kunsthandel, um ihrerseits zur Reibungsfläche der Nachfolgegenerationen zu werden. Nach der Jahrhundertwende: Futuristen, Dadaisten, Surrealisten. Die Avantgarde-Bewegungen formieren sich noch radikaler mit konturiertem Programm und vor allem: Manifesten! Die Überführung von Kunst ins Leben wird das Thema des 20. Jahrhunderts, erst beim „Bauhaus“, später in Warhols Factory oder der Fluxus-Bewegung. 1957: Die „Situationistische Internationale“ breitet ihr Netzwerk über Europa aus. Vietnam- und Algerienkrieg geraten ebenso ins Kreuzfeuer wie Kunstmarkt und Konsumspektakel. Ihre Waffen: Kommunikationsguerilla, Détournement und Cultural Jamming.
Ab 1968 entstehen im Zuge der neuen sozialen Bewegungen unzählige künstlerische Vernetzungsmodelle, die die gängigen Praktiken im Kunstsystem aufsprengen. Moderne Mythen geraten ins Wanken, neue Slogans sind Dezentralisierung, Partizipation, Emanzipation und Vernetzung. Alles scheint möglich. In Berlin gründen sich mit „die zinke“ und „Großgörschen 35“ die ersten Selbsthilfegalerien, die dem erlahmten Kunsthandel frischen Input geben und sich rückblickend für viele als Sprungbrett für Weltkarrieren erweisen. In den Siebzigern werden aus Selbsthilfe- Produzentengalerien und Dieter Hacker proklamiert: „Tötet Euren Galeristen. Kollegen! Gründet Eure eigene Galerie.“
Hilka Nordhausen öffnet in Hamburg mit der „Buch Handlung Welt“ die Tore für kritische Kunst- und Textproduktion. Auch Harald Szeemann versucht sich an institutionsfernen Orten wie der eigenen Wohnung in Bern („Großvater, ein Pionier wie wir“, 1974). In der DDR treffen sich Künstlerkollektive heimlich privat oder in Kirchen, produzieren Zeitschriften im Eigenverlag und betreiben im wahrsten Sinne Subkultur. Nicht wenige Projekte der 1980er und 1990er genießen heute unter Insidern Legendenstatus und verführen zum lautmalerischem Name-Dropping: BüroBert, CopyShop, Hobbypop, Frischmacherinnen, allgirls, Galerie Fruchtig und Akademie Isotrop. Obrist lädt 1991 zur „World Soup“ in seine Küche ein, Biesenbach 1992 in „37 Räume“ der Auguststraße. Kuratoren und Künstler tauschen Rollen, finden Nischen und improvisieren, was das Zeug hält. Die Züricher Shedhalle startet schon 1980 – als Offspace. Déjà-vus heute: Seit den Nazarenern haben unzählige Initiativen weltweit bewiesen, dass sich Co-Working oft mehr lohnt als das Sich-Abstrampeln als Einzelner. Auch wenn es unter „Frenemies“ (engl. Kontamination aus friends & enemies) die Balance zwischen Individuum und Kollektiv immer neu auszutarieren gilt und viele Gefüge nicht lange Bestand haben, schließt das Nachhaltigkeiten nicht aus – im Gegenteil. Der Proklamationsgestus ehemaliger Manifeste findet sich heute in den „Mission Statements“ („Über uns“) auf Webseiten wieder. Der damals utopische Fortschritts- und Reformglaube klingt hier weitaus pragmatischer, zuweilen wie Förderantragslyrik, aber auch selbstreflektierter.
Situationistische Praktiken mutieren zu Vorbildern für Kunstpraktiken wie Marketingstrategien: Von den New Yorker Guerilla Girls, über umweltaktionistische Guerilla Gardenings bis hin zu Flash Mobs von und bei Burger King. Guy Debords urbanes Umherschweifen hinterlässt Spuren in öffentlichen Raumprojekten (Park Fiction) und Trendsportarten (Le Parkour). Damals wie heute sind Mythos, Anspruch und Realität nicht immer deckungsgleich. Mal mehr mal weniger reflektiert, sind die Situationisten noch heute die meist zitierte Referenz bei Produzentenraumbetreibern. Sicher auch, weil sie schon früh ganz ohne Twitter und Facebook das internationale und interdisziplinäre Networken praktizierten. Das Modell Produzentengalerie erfährt in Berlin bei LIGA, DISKUS und REKORD ein erfolgreiches, in den Medien gehyptes Revival und lässt mit unzähligen Nachahmern die Brunnenstraße jahrelang pulsieren. „Based in Berlin“ 2011: An Wowereits heiß debattierter „Leistungsschau“ nehmen auch die Projekträume „Autocenter“ (mit Gastkurator) und „After the Butcher“ (mit Künstlergruppen) teil. Biennale Venedig 2011: Kuratorin des Schweizer Beitrags für das Teatro Fondamenta Nuovo ist die Künstlern Andrea Thal, die auch Programmverantwortliche des Züricher Produzentenraums Les Complices ist. So einiges Vergangene wirkt politisch radikaler als heute. Man denke an die Messe „2ok“ in Köln 1996, die das Sponsoring von Siemens in Höhe von 40.000 DM aus Autonomiegründen ablehnte. Der Rückblick beweist aber auch, dass sich Subversion und Etablierung, symbolischer und ökonomischer Erfolg nicht zwingend ausschließen, sondern oftmals sogar beflügeln. Viele Ex-Offspaces sind heute anerkannte Institutionen, ehemalige Underground-Künstler rangieren an der Spitze des Kunstmarkt-Rankings oder lehren an Akademien als Beamte auf Lebenszeit.
Anders anders sein Mit all dem kunsthistorischem Erbe im Rücken und dem heutigen „Anything Goes“ auf den Schultern sind Reichweiten und Selbstreflexionen ins Unermessliche gestiegen. Bestes Beispiel – der (nennen wir ihn) Off-Diskurs: „Offspace“ im Sinne eines abgelegenen Ortes ist eine Wortschöpfung aus dem deutschsprachigen Raum der 1980er Jahre. Vermutlich eine Referenz zum New Yorker Theater, das sich seit den 1960ern je nach Standort und Budgetgröße in Broadway, Off-Broadway und Off Off-Broadway unterteilt. Die Filmtheorie wiederum meint mit Off-Screen das, was man hören, aber nicht sehen kann. Auf jeden Fall geht es um das Randständige, das sich außerhalb offizieller Aufmerksamkeiten abspielt. Heute scheint es genau anders herum zu sein: Off ist in. Alle damit einhergehenden Leitbilder wurden im Zuge des Neoliberalismus vielfach instrumentalisiert, durchgenudelt, ausgelutscht, verdaut und wieder ausgespuckt. Die Reflexionen darüber vervielfältigen sich spätestens seit Boltanskis/Chiapellos „Der neue Geist des Kapitalismus“ disziplinübergreifend unter Geisteswissenschaftlern, in Alltagsmedien und der Kunstpraxis selbst. Galerien orientieren sich am Role Model „Offspace“ mit „young emerging“ Projekträumen. Produzentenräume ihrerseits kooperieren vielseitig mit Institutionen: „Other possible Worlds“ (NGBK Berlin), „No soul for sale“ (X Initiative New York, Tate Modern London), „Istanbul Off Spaces“ (Kunstraum Kreuzberg/Bethanien), „Armella Show“ (Kunsthaus Erfurt), „Work to do!“ (Shedhalle Zürich). Immer häufiger erscheinen sie auch auf Kunstmessen oder beteiligen sich bereitwillig an der online Best-Of-Offspaces-Serie des (ehemals so geschmähten) art Magazins. Längst haben auch Kreativwirtschaft und Kulturpolitik die „jungen Experimentellen“ als imagefördernden Standortfaktor für sich entdeckt und betreiben mit dem trendigen Off-Label eifriges Stadtmarketing. Festivals wie „subvision“ (Hamburg), „vierwändekunst“ (Düsseldorf) oder „OFF ON“ (München) splitten die Szene immer wieder in Befürworter und Gegner: fuckoffspaces! Eins steht fest: Die paradoxe neoliberale Anrufung „Be creative!“ lässt sich längst nicht mehr mit den polemischen Dichotomien off-on, kommerziell-nichtkommerziell, frei-unfrei, gut-böse abhandeln. In Zeiten radikaler Privatisierung und Kulturhaushaltskürzungen teilen Produzentenräume mit Museen und Non-Profit-Organisationen das gleiche Schicksal. Sponsoren können dabei ebenso befreien oder einschränken, wie das ständige Zurechtfrisieren von Förderanträgen und Buhlen um die gleichen mickrigen Töpfe. Entscheidend ist, dass Produzentenräume enorm zur kulturellen Vielfalt einer Stadt und Region beitragen und ohne sie Kunstpraxis wie -diskurs heillos stagnieren würden. Kritisches Potential praktizieren sie nicht kategorisch, sondern taktisch, zeitweise und situativ. Dass sie dabei in Kauf nehmen, „kein Geld zu verdienen, frierend zu arbeiten und immer wieder plötzlich umziehen zu müssen“ (O-Ton art online!), geschieht dabei weitaus weniger freiwillig und bohémehaft, als so manch schmissige Headline oder Selbstmythologisierung vermuten lassen. Gerade weil sich ihr Mehrwert eben nicht mit rein ökonomischen Verwertungslogiken berechnen lässt, sind sie umso mehr auf finanzielle Ressourcen und Raumverfügbarkeiten angewiesen. Zunehmend selbstbewusst und professionell verhandeln ihre Betreiber mit Interessensverbänden, Kulturämtern und Parteien über eine zeitgemäße Kulturförderung und Stadtpolitik: Die Hamburger Initiative „Wir sind woanders“, die Düsseldorfer „Freiräume für Bewegung“, die Schweizer Plattform „Off Off“ und nicht zuletzt das „Berliner Netzwerk freier Projekträume und -initiativen“.