Tagebuch

2014:Jul // Einer von hundert

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07-2014
















Einer von hundert
Tagebuch aus dem Berliner Frühling und Sommer

12. Februar, ver.di, Köpenicker Straße
Dass ver.di auch auf Kunst macht, wusste ich noch gar nicht, auch nicht, dass sie sich für die Belange von Künstlern stark machen. Ich bin zur Ausstellungsfinissage inklusive Vortrag von Hanno Rauterberg geladen. Die Kunst ist im Gebäude ohne eigenen Raum verteilt, drei Generationen werden unter dem Titel „Gedehnte Zeit“ versammelt. Rauterberg spricht über die korrupte Gegenwartskunst und stellt unerwarteter­weise nicht den Kunstmarkt an den Pranger, sondern die Künstler, die das Spiel mitmachen. In der Diskussion geht es kontrovers zu: sich verteidigende Künstler, pauschales Kapitalismusbashing und Angriffe auf die zahnlose Kunstkritik wechseln sich ab mit Appellen an die Verantwortung, die Rauterberg als Autor mitträgt. Ob die schon mal was von „Haben und Brauchen“ gehört haben?

16. März, Gossowstraße und Plattenpalast, Wolliner Straße
Der Sonntag zeigt mir mal wieder, was Berlin so besonders macht: Erst bin ich in der Privatwohnung von Adrian Schiesser zur „Sonntag“-Ausstellung zu Gast. Es gibt den Lieblingskuchen der Künstlerin Kerstin Honeit, Goldgeschirr und eine gesellig wie konzentrierte Atmosphäre. Dann geht’s zur Gruppenausstellung „Neue Regeln“ in den Plattenpalast. Versteckt im Hinterhof, aber sehr schick gemacht, befindet sich hier ein kleiner Ausstellungsraum, der fein bespielt wird mit vier Positionen zum Thema „Strich“.

12. März, n.b.k., Chausseestraße
Die Berliner Stipendiatenausstellung wird jetzt kuratiert, d.h. mit einem Titel versehen und unter das vage Motto „Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft“ gestellt. Der Versuch des Kurators Frank Wagner, eine bindende Klammer zu finden und die Arbeiten politisieren zu wollen, wirkt aber allzu bemüht. Das Künstlergespräch ist auch enttäuschend: statt ein Gespräch mit und zwischen den Künstlern anzufangen, werden Biografiestationen aufgesagt und allgemeine Einführungstexte vorgelesen. Gähn.

12. April, Art Cologne
Seit langem mal wieder auf einer Kunstmesse. Hatte ich vergessen, wie die aufgebretzelten Reichen durch die Stände gockeln, sich alles zeigen lassen, Preise abfragen und dann einfach weiterziehen. Die Galeristen, servil und hoffend, immer wieder aufs Neue Mappen und Arbeiten hervorholend, warten dann auf die nächsten angebräunten, verschrumpelten Geldpärchen und lassen sich dann die Karte geben, denken aber vielleicht eher an Kugeln.

28. Juni, zu Hause, Computer
Vor hundert Jahren begann der erste Weltkrieg. Mit diesem traumatischen „Jahrestag“ konfrontiert, werden Parallelen zwischen heute und damals erkennbar. Ist es die Dekadenz, die die Zeiten verbindet? Dieser Verfall von Kultur und Niedergang einer Gesellschaft? Die Hinnahme gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Ungleichheit, der Verfall sozialer aber auch rechtlicher Werte und Grundsätze … Möglicherweise sind wir wieder an einer letzten Stufe kultureller Entwicklung angekommen, um Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr zu bemühen. Die besagt auch, dass nach dieser letzten Stufe der ideale Mensch, der Übermensch kommt. In der Ohnmacht verharrend, die angesichts Klimakatastrophen und politischer Klientelpolitik über uns hereinbricht, scheint es, als würden wir alle auf den Übermensch warten, um uns zu retten. Dabei wissen wir schon seit Kindesjahren, dass der Retter aus dem Märchen nicht wirklich kommt und wir aufstehen und selbst der Wandel sein müssen, den wir in der Welt sehen wollen. Der Dekadenz die Stirn bieten, sich organisieren, die Machtstrukturen, die die Ungerechtigkeit stabilisieren, entblößen und der eigenen Ohnmacht keinen Raum lassen.

30. April, Bikini-Haus
Pop-up-Ausstellung zum Gallery Weekend, kuratiert von Isabelle du Moulin mit über 60 Künstlern in Prager Hängung.Ähnliches Bild wie auf der Art Cologne, statt rheinischem Schischi jetzt Berliner Westendpublikum. Keiner kauft irgendwas, alle prosten sich zu, dabei ist es eine offensichtliche Verkaufsausstellung, ein innerstädtischer Messestand ohne inhaltlichen Mehrwert, eine Refinanzierungsmöglichkeit vieler Künstler, die wieder mit leerem Geldbeutel nach Hause gehen und weiter Kulturdeko für unser achso tolles Berlin produzieren. Na denn, zum Wohl, haut rein!

29. Mai, im Treppenhaus am Briefkasten
Habe gerade gesehen, dass Krebber bald eine Eröffnung bei Buchholz hat und erinnere mich, dass das beim letzten Mal ein „Riesending“ war. Besucher und Fans unterschiedlichster Generationen und Nationen … Beschließe dann aber, dieses Mal nicht hinzugehen, aus unterschiedlichen Gründen. Trotzdem bin ich neugierig und unterhalte mich mit anderen, wie sie es einschätzen, wie diese Eröffnung wohl sein wird …

8. Juni, Kunst-Werke
Sonntagnachmittäglicher Biennale-Besuch in den Kunst-Werken. Besonders beeindruckt mich eine schier unendliche Menge an weißlichen Rahmen, die eine Atmosphäre von Frozen Joghurt oder Townhouse-Werbung verbreiten. Offensichtlich stammen sie aus heimischer Berliner Rahmenmanufaktur, und die vielen dort beschäftigten Berliner Künstler/innen freuen sich bestimmt, so auf ihre Art produktiv und wertschöpfend partizipieren zu können. Dieses Rahmenkonvolut präsentiert sich als ein – quasi die gesamte Biennale durchziehendes – All-Over-Readymade. Vielleicht das heimliche Hauptwerk dieser Biennale. Und nicht nur ausstellungstechnisch, sondern auch konzeptionell politisch – sowohl in der Thematisierung von Verflüssigung und Auslöschung bzw. beliebiger Austauschbarkeit von Inhalten als auch zum Thema von Partizipation und flachen Hierarchien.

9. Juni, Haus am Waldsee und Museen Dahlem
Wieder Sonntagsbeschaulichkeit, obwohl doch heute Montag ist. Ein Lichtblick für mich ist aber Carlos Amorales (nomen est omen in den Museen Dahlem) mit dem Filmvideo: „The Man Who Did All Things Forbidden“. Dieser Titel wäre doch auch ein Motto für die vielleicht nächste Biennale – nämlich einfach mal nur viel richtige Kunst zu zeigen.

21. Juni, auf einer Eröffnung im Wedding
Grade erzählte mir wieder jemand (ganz unaufgefordert), dass die Krebber-Eröffnung bei Buchholz nicht besonders gut besucht war. Ich selbst erkläre mir das so: viele, also vor allem die Städel-(Teilzeit)-Studenten, die den Hype noch bis vor kurzem mitgeneriert haben, sind inzwischen selbst erfolgreich, haben eigene Galerien, Ausstellungen an hippen Orten etc. Sie brauchen Herrn Krebber jetzt nicht mehr so dringend, sie sind inzwischen selbst professionell drin im dem Netz, in das sie reinwollten … Vielleicht lag die kolportierte geringere Besucherzahl ja auch noch mit an des Professors Blog-Bildern, die ja nicht nur für Begeisterung gesorgt haben. Aber das ist natürlich alles nur Spekulation.

6. Juli, Choriner Straße, Späti, 16 Uhr
Thomas Helbig erzählt mir, dass Joanna Kamm zu macht. Die obere Mittelklasse, zu der man sie durchaus zählen durfte, leidet zunehmend. Nourbakhsch, Klosterfelde, Kamm, alle Art- Basel-Teilnehmer, alle weg-vom-Fenster. Die Frage ist, was die mittleren Obere-Mittelklasse-Künstler dieser Galerien jetzt machen (die S-Klasse landet eh bei anderen), die stehen erst mal auf der Straße. Nach z.B. Berta Fischer oder Matthew Antezzo, jetzt Albrecht Schäfer, Bernd Ribbeck oder Claudia Wieser. Letztere kam sogar erst kürzlich nach Schließung von Ben Kaufmann ins Programm von Kamm. Eigentlich könnte ein cleverer Start-up-Galerist all diese Rosinen aufpicken und mit einem guten Programm aufmachen.
Kerstin Honeit, Ausstellungsansicht „Motives? That’s an ugly implication“, Courtey Sonntag (© Kerstin Honeit)
Bikini-Haus (© )
Portrait Friedrich Nietzsche (© )
„The Man Who Did All Things Forbidden“, (© Carlos Amorales)
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