Einer von hundert / Tagebuch aus dem Berliner Herbst und Winter
29. September, Kunstamt Kreuzberg Es gibt haufenweise Ausstellungen, die ein Thema haben, seltener aber liegt ihnen ein Konzept zugrunde. Im Falle von „Tomorrow it’s time for the future“ im Kunstraum Kreuzberg ging es jedoch genau darum: die Arbeiten nicht um ein Thema zu gruppieren, sondern sie aus einem konzeptuellen Ansatz heraus zusammenzustellen. Die Crux: weder die Namen der Kuratoren – eine Gruppe von Künstlern – noch das Konzept wurden benannt. Bis ich verstand, worum es ging, verging eine ganze Weile. Zwar hatten mich im Vorfeld die illustre Künstlerliste und die Veranstaltungshinweise zum Thema Authentizität, Richtig/Falsch sensibilisiert, doch erst als ich die Schilder und die dortigen Courtesy-Angaben mit der Künstlerliste abgeglichen hatte, wurde mir klar, dass es sich um dieselben Personen handelte. Aber hatten die Künstler tatsächlich ihre (New Yorker) Vorbilder gefälscht – oder um es positiver zu formulieren: in einem Akt der Nachahmung hommagiert? Wie geht denn das rechtlich, fragte ich mich. Und ob die Künstler – unter ihnen Lawrence Weiner, Tracey Emin, Hito Steyerl von ihrem Glück wussten? Schon lange nicht mehr mit so hoher Aufmerksamkeit durch eine Ausstellung gegangen.
11. Oktober, Belforter Straße Apropos Gruppen: Im Großen Wasserspeicher im Prenzlauer Berg eröffnet mit „Other Shadows embrace Mountains“ ebenfalls eine Gruppenausstellung, ebenfalls von den beteiligten Künstlern kuratiert und organisiert. Nach dem Auftakt der Ausstellungsreihe in der Maschinenhalle eines ehemaligen Schwimmbades in Steglitz kommen in diesen Räumen die Arbeiten voll auf ihre Kosten, denn sie kommen sich im konzentrisch angelegten Speicher nicht in die Quere, müssen regelrecht erlaufen werden. Geschickt greifen sie die räumlichen Bedingungen auf oder kommentierten sie. Ein angenehmes Zusammenspiel von Kunst und Ort. 26. Oktober, Martin-Gropius-Bau Auch Anish Kapoors Ausstellung im Martin-Gropius-Bau setzt Laufvermögen voraus – allein schon aufgrund der schieren Größe der Ausstellung. In diesem Fall werde ich jedoch ob der öden Wiederholungen und der Monumentalität der Werke eher zum Weglaufen animiert.
31. Oktober, Invalidenstraße Ähnlich ergeht es mir im Hamburger Bahnhof. Bei der Ausstellung zum Preis der Nationalgalerie fühle ich mich schon im Treppenhaus von der schieren Menge der Arbeiten erschlagen. Simon Denny hätte auf die Hälfte seiner Wandposter verzichten können, auch Kerstin Brätschs Raum wirkt überladen und mehr wie eine Retrospektive denn wie eine Positionsbestimmung. An Haris Epaminondas ästhetisch perfekt durchkomponierte Arbeiten erinnere ich mich noch von der Documenta – doch schon dort war es mir zu viel des Guten. Im Hamburger Bahnhof drehe ich der vierstündigen Vier-Kanal-Projektion und dem vagen assoziativen Zueinander nach kürzester Zeit wieder den Rücken zu.
8. November, abends zu Hause Apropos Fülle: Voll war’s vorhin bei der Spielzeiteröffnung des Gorki Theaters mit dem schönen Namen „Herbstsalon“, der sich allerdings auf eine ganze Woche erstreckt. Die zu vermittelnde Botschaft: Die neue Intendantin Shermin Langhoff holt nicht nur das post-migrantische Theater in das ehrwürdige Haus unter den Linden, sondern auch (post-migrantische und politische) Kunst! Zu sehen war heute eine ansprechende Mischung aus Altbekanntem und Neuem, politisch provokativen und poetischeren, nachdenklichen Arbeiten in erstaunlich weitläufigen Räumen.
8. November, immer noch zu Hause Im Garten des Gorkis steht übrigens eine Hasskappe für die Freiheitsstatue im Maßstab 1:1. Jetzt fällt mir eine Geschichte ein, die sich so nur in der bildenden Kunst abspielen könnte: Treffen sich zwei Männer, einer Mitte Vierzig, der andere Ende Dreißig, in einer Bar. „What’s your name?“ „Daniel, but my friends call me Dan“ „Oh, my name is also Danh, with an h in the end, what are you doing?“ „I’m an artist.“„That’s amazing, me too, what kind of art?“ „More or less sculpture, right now I’m building a big, what’s the name in english, Hasskappe, hate hat, for the American Liberty Statue, Scale 1:1, and you?“ Der andere leicht blasser: „I rebuild the Liberty Statue 1:1“
9. November, Wallstraße Apropos Ort: Bei der Finissage von Constantin Wallhäuser im „Between you and me“, dem neuen Solo-Projekt von Espace-Surplus-Mitbetreiberin Bettina Springer, bin ich beeindruckt von der Lokalität. Es handelt sich um einen ehemaligen Eisenwarenladen in der Wallstraße, in einem Haus, das vorne hui, hinten pfui aussieht und innen mit einem rohen Saal mit Veranda und feiner Eisentreppe aufwartet. Ähnlich wie bei „Other Shadows embrace Mountains“ entstehen die künstlerischen Installationen „speziell für diesen Ort und sind nur für die Dauer der Ausstellung in den Räumen zu sehen. Bei dieser ‚site-specific art‘ ist das Gesamte immer mehr als die Summe seiner Einzelteile.“ Wie wahr. Problematisch wird’s nur, wenn die künstlerischen Arbeiten dabei zu dezent sind.
13. Januar, Olevano, Italien War eben noch mal auf der rlf-Propaganda-Website, um den Fortgang des Projekts zu verfolgen. Wahnsinn, was Friedrich von Borries da verursacht. Da hat er tatsächlich ein paar hoffnungsvolle Community-Mitglieder geangelt. Leute, die da ihren Idealismus reinstecken (und ob ihres Idealismus wohl auch etwas zu blind sind, um einem Teilzeitzyniker wie Borries nicht auf den Leim zu gehen). Leute, die Ideen entwickeln, Hoffnungen haben und bei seinem verblödeteten Tat-oder-Wahrheit-Spiel mitmachten, um dort Punkte sammeln (zum Beispiel, indem sie einen Platz besetzen oder freie Umarmungen verteilen müssen) und erst sehr spät merken, was das eigentlich ist. „Totale Verarsche“ so der Gewinner des Challenge-Contests Claus Habers, schwerst enttäuscht. Prompt postete er einen Kommentar mit einem Link auf ein YouTube-Filmchen, in dem er seinen ersten Preis, ein Paar rlf-Turnschuhe in einer Tonne mit Benzin überschüttete und anzündete. Und natürlich postet Borries den Film gleich auf seiner rlf-Seite „Der Gewinner von START-A-REVOLUTION, der die Botschaft ernst nahm …“ Nicht der Kapitalismus verleibt sich alle Kritik ein, aber von Borries.
11. Februar, Torstraße Hat jemand in meinem Alter die gleiche Erfahrung, also so Mitte Vierzig? Dass man da in eine immer ereignisärmere, wüstenartige Zone reinmarschiert? Eben bei Horzons Wandelementeneröffnungsparty. Sah alles so aus wie vor 15 Jahren, nur dass die Menchen irgendwie wertiger angezogen waren und statt schwarzen oder weißen Platten plötzlich eine ungeahnte Vielfalt an den Wänden hing. Farbstreifen, Farbverläufe auf Plexi oder Glas, als hätte er alles aus dem Mülleimer von Anselm Reyle gezogen. An den Wänden also viel mehr Spannung als früher. Aber keiner schaute hin, das perfekte Vernissagen-Dekoelement. Und irgendwie fühlte es sich an wie auf einer extrem blutarmen Mischung aus Petzel-Eröffung, Werbeagenturparty und Architektenkantine. Ich glaube meine mangelnde Teilnahme liegt an diesen beständigen Langzeitflashback-Erlebnissen. Man steht in seinem Leben wie auf einem staubigen Dachboden, immer grauere und faltigere Uraltbekannte tauchen auf. Die Spinnfäden der Unterhaltungen kleben an den Becksflaschen und das wird die nächsten zwanzig Jahre nicht anders werden.
22. Februar, Brunnenstraße Letztes Lebenszeichen der Stedefreunde bei Axel Obiger. Petersburger Hängung, von allen eine Arbeit. Fällt dann nichts wirklich auf. Nach all den kraftvollen, rauminstallativen Arbeiten der letzten acht Jahre ist die Ausstellung nicht mehr als ein Gruß, ein Good-Bye, ein Lebt-wohl. Danke für die lang anhaltende Bereicherung unserer Stadt! „Von hundert“ gründete sich übrigens auch Ende 2006, wir machen weiter.
28. Februar, zu Hause Kennt eigentlich jemand die Regel, dass man als Künstler bei jeder Ausstellungseröffnung seiner Galerie anwesend sein muss, dass es da keine Entschuldigung gibt, nicht zu kommen, kein krankes Kind, kein gebrochenes Bein, kein gar nichts? Ich kenne jemanden, der flog wegen Brechens dieser Regel aus seiner Galerie.