Hören ist komplex. Nachdem Riechen, Schmecken und Fühlen im Laufe des Zivilisationsprozess in den Bereich des Privaten abgedrängt wurden, ringen Hören und Sehen um den ersten Platz innerhalb der Hierarchie der Sinne. Sehen gilt als griffiger und hilft dabei die Welt zu strukturieren. ‚Einsehen‘ bedeutet ‚verstehen‘. Hören dagegen erfordert eine Schulung des Gehörs und ist viel weniger les- und entzifferbar. Die Augen können geschlossen werden, die Ohren verfügen dagegen über kein natürliches Schutzschild. Trotz der Übermacht unserer visuellen Kultur drehte sich bei dem HKW-Festival „Böse Musik – Oden an Gewalt, Tod und Teufel“ in Konzerten, Installationen, Filmen und Gesprächen alles um die Frage „Gibt es böse Musik?“. Von FAZ-Journalist und HKW-Bereichsleiter-für-Musik Detlef Diederichsen und dem Sound-Studies-Professor an der Humboldt Universität Holger Schulze organisiert, wurden während den vier Tagen sämtliche Register der bösen Musik gezogen. Neben gemeinhin als böse deklarierten Musikgenres wie Heavy Metal, Hip-Hop und Nazi-Rock reihten sich auch solche Arten der bösen Musik wie die Narcocorridos (Lobgesänge auf die mexikanischen Drogenkartelle), die Musik der Mafia Kalabriens und die hypnotischen Voodoo Beats aus Haiti, New York und New Orleans.
Gleich am Eröffnungstag wurden die BesucherInnen mit einer performativen Hasstirade des Gangster-Raps konfrontiert. Als kritische weiße Deutsche stellten Ale Dumbsky, Volkan Terror und Robert Stadlober in ihrer Auftragsarbeit „Pure Hate“ sexistische, homophobe und einfach total dämliche Phrasen des Pimp-Raps („Nutte-Nutte-Geile Sau-Nackte Frau-Geiler Vorderbau“) in eine atonale Klanglandschaft, sodass den BesucherInnen das anfängliche Lachen im Halse stecken blieb. Neben der moralischen Bewertbarkeit von Texten ist das Böse auch psychisch nur schwer zu ertragen. So musste Dumbsky seine Recherchearbeit auf zweieinhalb Stunden am Tag begrenzen. Es sei einfach „echt eklig“ gewesen. Immer wieder wurde das Thema der Intentionalität von Musik aufgegriffen. Die Frage des Kontextes lieferte auch indirekt der Titel des reißerisch aufgemachten Undercover-Dokumentarfilms über bayerische Neonazis „Blut muss fließen“ von Peter Ohlendorf. Der Klassiker des deutschen Nazirocks, der als Filmtitel herhielt, stammt eigentlich von dem sogenannten Heckerlied, einem Revolutionslied der badischen Freiheitsbewegung von 1848. Was bei den radikaldemokratischen Revolutionären noch hieß „Fürstenblut muß fließen/Knüppelhageldick/Und daraus ersprießen/Die freie Republik“ wurde elegant umgedichtet in „Blut muss fließen knüppelhageldick/und wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik“. Böse ist der Nazi-Text. Böse war auch der Hecker-Text für das deutsche Adelsgeschlecht, das im Begriff war, seine Macht zu verlieren. Bei dieser Art der bösen Musik, die instrumentalisiert wird, um eine inhumane Botschaft zu verbreiten, ist der Text böse, in einer ethisch-moralisch Sicht. Allerdings ist Musik mehr als ihr Text. Wie bei einem gelungenen Horrorfilm, wo das Böse genau das ist, was nicht zu sehen ist, steckt das eigentlich Böse der Musik nicht im Text, so Lars Brinkmann, der sichtbar aus der Metal-Kultur stammende Musikjournalist. Auch wenn das miesen und diskriminierenden Texten Ausgesetztsein schnell die psychische Toleranzgrenze sprengen kann, lag ein weiterer Schwerpunkt des Festivals auf textfreien Klängen des Bösen. So wurden die BesucherInnen im Eingangsbereich des HKWs in Anke Eckardts Klanginstallation „Stalker 2“ mit einer abgemilderten Version von Ultraschall basierten Lautsprecher begrüßt. Diese können kilometerweit einen Ton beamen, der mit 150 dB über der menschlichen Schmerzgrenze liegt und somit physische Auswirkungen, im extremsten Fall das Platzen innerer Organen verursachen kann. Töne so unerträglich, dass sich sofort die Ohren zugehalten werden müssen, wurden zum Beispiel gegen Demonstrierende während des G20-Gipfels 2010 in Toronto eingesetzt. Auch im militärischen Bereich erfreut sich der Schall als nicht tödliche Waffe einer immer größeren Beliebtheit. Sie hat den „humanen“ Vorteil nicht zu töten, sondern führt lediglich zur Lähmung der FeindInnen. Da der Schalldruck keine sichtbaren Spuren hinterlässt wie beispielsweise ein Maschinengewehr, verändert sein Einsatz in der Kriegsführung des 21. Jahrhunderts auch die Art und Weise der Empathie, welche nicht mehr durch schockierende Kriegsfotografien ausgelöst wird, sondern der Schmerz nur abstrakt anhand von Messungen der akustischen Schwingungen und der Berechnung des Zumutbaren für die Empfindlichkeitskurve des menschlichen Gehörs zu erahnen ist. Die abstrakten Messzahlen, in die der Schall übersetzt wird, sind weit weniger in der Lage die Schrecken des Kriegs aufzuzeigen, als es Bilder tun können. Messzahlen also statt Bilder. Der Dokumentarfilm „Musik als Waffe“, der sich mit Musik im Krieg und als Folterinstrument auseinandersetzt, zeigt, dass die CIA gar eine Richtlinie für die auditive Folter hat. Genehmigt werden pro Tag 18 Stunden Geräusche einer Schnellstraße oder 8 Stunden Lärm eines aufgedrehten Mopeds. Die Tendenz der Anwendung auditiver Folter ist steigend, da sie grausam und doch unsichtbar ist. Doch gibt es keine eindeutige Definition, was die auditive Gefährdungsgrenze anbelangt, so pendeln die Einschätzungen zwischen 120 und 140 dB. Der Lautstärkepegel der menschlichen Stimme liegt in der Mitte.
Ganz und gar unentscheidbar verhält es sich mit den persönlichen und kulturellen Musikvorlieben. Die eine mag sich an Diamanda Galás’ dämonisch-schriller, beinah vier Oktaven umfassender Stimme berauschen, während der andere zu Katy Perrys Popballaden mitträllert. Hier ist die Kategorie „böse“ eine Geschmacksfrage. Musik hat eben eine affektive Wirkung, die ganz individuell ausfallen kann.
Welche Wirkung die Marschmusik des eingeladenen Bundespolizeiorchesters Berlin erzielen sollte, ist eindeutig. Schließlich ist das Orchester ein Überbleibsel der Tradition des institutionellen Einsatzes von Musik im Rahmen der Exekutive. Da täuschen auch nicht die Hochzeits- und Trauermärsche darüber hinweg, dass die Trommeln, Pauken und Trompeten ganz im Sinne von Massensynchronisierung und Selbstdisziplinierung stehen. „Aufgehen des Individuum im Volkskörper“, wie es Diederichsen in dem Mikrosymposium „Schöne böse Welt“ treffend bezeichnet hat. Seit Beginn der Nationalstaatlichkeit wurde Musik systematisch für militärische Zwecke genutzt. Und was die Schamade, ein mit Trommeln erzeugtes Schallsignal, das die Soldaten in eine kampfeslustige Stimmung versetzen sollte, noch im 18. Jahrhundert war, sind heute der Doublebass und die Gitarrensoli der US-amerikanischen Metal Band Drowning Pool, die als inoffizieller Soundtrack Einsätze in Afghanistan und im Irak begleitet.
Als Teil des Anthropozän-Projekts des HKW, welches den Menschen als einen der wichtigsten Einflussfaktoren für alle Prozesse und Ereignisse auf der Erde betrachtet, stellt auch dieses Festival den Versuch dar, anhand böser Töne grundlegende Fragen nach der menschlichen Natur zu beantworten. Der Mensch nutzt Musik zu bösen Zwecken, instrumentalisiert sie als Folterinstrument und als perfide Waffe im Krieg, als Vermittlerin von politischen Ideologien, als Gleichschaltungsmittel und als Lobeshymne auf die Kriminalität der Mafia, versteckt im Deckmantel des volkstümlichen Liebeslied. Das Böse ist also menschlich und nicht per se musikalisch? Trotz der kulturhistorischen und musikgeschichtlichen Intention stellt sich die Frage, wieso ausgerechnet Töne zu „bösen“ Zwecken eingesetzt werden und scheinbar zielorientiert funktionieren. So gibt es unabhängig von Musikgeschmäckern und der kulturellen Herkunft der Hörenden die neurologisch-psychologische Dimension von Tönen. Zwei Töne in derselben Tonlage lassen dissonante Reibungen entstehen und aktivieren Gehirnregionen, die negative Gefühle aussenden. Außerdem böse: Totale Stille. Dass akustische Deprivation ein ebenso „gutes“ Folterwerkzeug abgibt wie zu laute Musik, darin waren sich alle auf dem Festival einig.
Doch zurück zur Musik: Wie der Autor und Musiker Dietmar Dath in seiner Keynote zur Eröffnung anmerkte, ist böse Musik „jede Musik, die sich nicht ums Wahre, Schöne, Gute kümmert und sich selbst genug ist.“ Böse Musik kann also eine Verweigerung gegen das Glatte und Reine sein. Und darin liegt die sogartige Faszination für diese Musik. Wie Ale Dumbsky sagte „Böse Musik ist die geile Musik.“
Böse Musik kann eine Geste der Verweigerung und der Abgrenzung vom eigentlichen Bösen, nämlich der heilen Welt der Kastelruther Spatzen und der Hansi Hinterseers sein. Wie die Ikone der Industrial-Musik Genesis P-Orridge einst über seine Musik sagte „Wir werden von Gewalt regiert. Was wir tun, ist Gewalt wieder in ihrem eigenen Kontext zu zeigen. Mit all ihren Schrecken. Dann wird es ungemütlich. Sie ist nicht mehr etwas, über das man sich nebenbei bei einer Tasse Kaffee unterhalten kann.“
Im Mai wird mit dem dritten und letzten Teil der Musikfestivalreihe der Fokus auf doofer Musik liegen, also auf Musik wie Schlager, Polka und Country, die stumpf, taub, empfindungslos – eben „doof“ macht.
„Böse Musik – Oden an Gewalt, Tod und Teufel“
Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 24.10.–27.10. 2013
Songliste der Autorin:
Burzum – Dunkelheit
Charles Manson – Sick City
Cтас Барецкий (Stanislav Baretsky) – Кризис (crisis)
Death In June – Rose Clouds of Holocaust
Johann Sebastian Bach – Organ Toccata
Los Tigres del Norte – Los Tres Amigos
NON – Total War
Rotterdam Terror Corps – God Is A Gabber
Throbbing Gristle – Dead Ed
Whitehouse – Why You Never Became A Dancer