Die Berliner Kunstszene ist homogener und langweiliger geworden. Schlimmstenfalls sehen alle so aus wie ich, wie soll man sich da noch fremd fühlen? Zu hoffen bleibt, dass das nur Kunstpartys und Ausstellungseröffnungen betrifft. Dort wo die Claims bereits abgesteckt sind. Verklärt denke man an die Zeit, als Leute noch nach Berlin zogen, um ein anderes Leben zu führen, ein selbstbestimmtes. Und hier liegt wohl der Pfeffer im Hase, denn meint nicht ein Großteil des Berliner Prekariats, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Die einen Künstler schlagen sich so durch, während die anderen gemeinsam mit ihren Eltern überlegen, wo sie ihre zukünftige Erbschaft in Berlin in Eigentum anlegen. Das Texte-zur-Kunst-Brunch am folgenden Tag, im ehemaligen Showroom der Galerie Klosterfelde in der Linienstraße, war dann wider Erwarten, bei Bärlauchschnittchen, süßen Teigtaschen, Bowle und Kaffee, angenehm lauschig, da fiel die Kunst nicht weiter ins Gewicht. Kurz noch über die Linienstraße geschlendert, und: Mein Gott, oder Oh my goodd (um dem touristischen Aspekt gerecht zu werden) ist das großartig.
Ein erregender Anfangsimpuls zog mich in den Galerieraum. Feinste, kleinteilige Zeichnungen unter geschichtetem und getropftem, glasklarem Polyesterharz. Die sich beim Näherkommen als von Schriftadern und Linien durchzogene Pläne und phantastische Landkarten entpuppten. Und beim Lesen gipfelten beide Momente in Euphorie, diese Frau denkt wirklich. Die Frau heißt Jenny Michel und ist 1975 geboren. Aber was meint wirkliches Denken in der bildenden Kunst? Handwerkliches Denken begegnet einem hier bekanntlich schon öfters. Spätestens seit Stéphane Mallarmé ist das flächige Schreiben, spätestens seit der Einführung des Begriffs „Konkrete Poesie“, ein Klassiker. Nun bedeutet Klassiker aber eben auch nur, dass er heute noch Bedeutung hat. Aber Jenny Michel verlebendigt diese Bedeutung für den Betrachter. Dabei gibt sie uns ein Modell, wie räumliches Denken möglich ist. Wie wir uns befragen können und sie liefert zeitgleich auf der formalen Ebene eine (schöne) Antwort. Die Antwort, dass es möglich ist, für unser Denken eine, und sei sie noch so offen, Form finden zu können. Und das beinhaltet die Idee, dass wir nicht formlos leben müssen. Und dass es möglich ist, dem vorgefundenen kulturellen Sprach- und Formenkodex zu widersprechen, indem wir ihn erweitern und eingrenzen. Denn ihre Arbeit besteht aus planvoll wuchernden, aus fragmentarisch und synaptisch angelegten Palimpsesten. Aus löchrig geschichteten Schaltplänen (einer Reprokamera) und assoziativen Landkarten. Dabei muten ihre Themenkreise zunächst altbacken klassisch und weltabgewandt an: „Rise and Fall of Paradise“, „The Heaven-And-Hell-Machine“, oder „Sisyphus im Paradies“.
Begriffsfindungen wie Mental-Map von Franz Ackermann, vergleichbar der Metapher des Kopffüßlers von Horst Antes, oder Gregor Hildebrands Materialmetapher der Tonband-Bilder, verhelfen einem Künstler zu einem hohem Wiedererkennungswert im Betriebssystem Kunst. Um dann durch beharrliche Wiederholung ikonographischen Charakter zu bekommen. In diesem Sinne könnte man hier von (Mental-)Mind-Maps sprechen. Doch wer sich in Jenny Michels Mind-Maps vertieft, oder sie auch nur liest, erlebt einen Reichtum der weit über eine mögliche Begriffshuberei hinausgeht. In ihren Arbeiten geht es um Langeweile, als die Wiederkehr des immer Gleichen in der Paradiesmaschine (Heilsversprechen, Erlösungsfantasie und Gesellschaftskritik). Um die Wiederholung als Zwangshandlung (Sisyphus-Traumata). Um das Wiederholen als Erinnerungsleistung sowie das Überschreiben als Vergessen, einem möglichen Freilegen der Worte (durch überschreiben mit neuen Wort-Programmen). Es geht um die Langeweile nimmer müder Maschinen, die bekanntlich der Langeweile ihrer Auftraggeber (nach Walter Benjamin) folgt. Es geht um paradiesische Heilsversprechen (dem Schwimmen im Muttermeer) und die Samenkerne des Apfels der Erkenntnis. Es geht um die Schaltkreise der Reproduktion von Handlungen, also Kultur, und wie man diese durchbricht (z.B. durchs Handanlegen, wie es Ihre Modelle eines beweglichen Denken, dem „Fahrstuhl im Etagenmodell“, Zitat Jenny Michel, zeigen). Es geht um Apparate (und in jedem, auch im Behördenapparat, steckt eine Blackbox, dort wo Schriftschichten opak werden) sowie Landkarten und deren weiße Flecken (wie der entfächerte Höllentrichter Dantes; hin zum Licht, hin zu Beatrice strebt). Dabei geht es Jenny Michel nicht um Verdichtung im literarischen Sinn, was bei ihren Schriftmomenten nahe liegen könnte, sondern um Schichtung und Verklumpung, im handwerklich-schriftlichen und zeichnenden Sinn.
Seit Freud, so Heinz Emigholz ironisch, gesagt hat, der Künstler heile seine Neurose selbst, heilen die Künstler ihre Neurosen selbst. Stellt man sich, einerseits, Schmerz, also das formlose Leiden, also die Kehrseite von Formfindung hinter diesen manisch-feinsinnigen Miniaturen vor, erschrickt man. Anderseits ist die Vorstellung einer fröhlichen Wissenschaft, an deren Schauspiel ich als Betrachter teilhaben kann, ein Spiel, dass mich schon mal glücklich gemacht hat.
Vergleiche auch Carlfriedrich Claus „Geschrieben in Nachtmeer“, Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin, 7.4.–5.6.2011
Jenny Michel, „Paradise“, Feldbuschwiesner Galerie, Linienstraße 155, 10115 Berlin, 30.4.–2.7.2011