Die Kunst lieben

Ich liebe Kunst

2011:Dec // Ludwig Seyfarth

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12-2011














Viele der Menschen, die Kunstausstellungen kuratieren, über Kunst schreiben, mit Kunst handeln oder andere Tätigkeiten im so genannten Kunstbetrieb ausüben, vermitteln nicht unbedingt das Gefühl, die Kunst zu lieben. Sie lassen ein Interesse an bestimmten Themen, an gesellschaftlichen oder politischen Fragen erkennen, aber keine affektive Beziehung zur Kunst selbst. Oft entsteht sogar der Eindruck, dass unmittelbar geweckte Empfindungen gar nicht erwünscht sind, ja dass sie den diskursiv gesteuerten Umgang mit der Kunst eher stören.

Auf die Frage „Lieben Sie Brahms?“ wird jeder, der die Musik dieses Komponisten gerne hört, mit „Ja“ antworten, ebenso wie sich ein Liebhaber der Werke Claude Monets sich mit Sicherheit keine Ausstellung des Malers entgehen lassen wird. Sich als Liebhaber oder Liebhaberin der Kunst zu outen, ist ebenso aus der Mode gekommen wie die einst hochgeschätzte Connaisseurship. Sie wird von den institutionellen Akteuren des Kunstbetriebs nicht, zumindest nicht nach außen, ausgelebt. Das tun stattdessen die Sammler, die mit ihrer Leidenschaft, Kunst zu besitzen, heutzutage für die affektive Beziehung zu ihr stehen. Kann sich diese etwa nur noch durch die Bereitschaft ausdrücken, viel Geld für Kunst auszugeben? Ich gebe fast nie Geld für Kunst aus, aber könnte viele Beispiele nennen, von denen ich unumwunden zugeben würde, dass ich sie liebe und dass sie intensive Empfindungen bei mir auslösen. Konkret zu werden, wäre ungerecht gegenüber anderen, nicht erwähnten Künstlern und ihren Werken. Ich kann aber problemlos einige Eigenschaften aufzählen, die Kunst aufweisen muss, damit sie mein Interesse und meine Leidenschaft wecken kann: Ein gutes Kunstwerk sollte anregend, sinnlich und intellektuell vielschichtig sein, verschiedene Betrachtungs- und Lesarten anbieten und auch immer wieder von neuem interessant sein.
Das sind eigentlich die Dinge, die ich fast ebenso in eine Kontaktanzeige hineinschreiben könnte, wenn ich auf Partnersuche wäre. Auf die Frage, ob er Deutschland liebe, antwortete der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann, er liebe seine Frau.
Wer in manchen Kreisen zugibt, die Kunst zu lieben, wird sich vorhalten lassen müssen, eine Beziehung emotional zu fetischisieren, die eigentlich eine intellektuelle, aufgeklärte sein soll. Aber warum nicht beides? Die Erwartung „sinnlicher Erkenntnis“ scheint doch viele Menschen zur Kunst hinzuzuziehen. Wenn Hunderttausende auf die documenta oder zur Biennale in Venedig pilgern, tun sie das bestimmt nicht nur deshalb, weil die Berichte in den Medien diese als „wichtige“ Ereignisse propagieren. Es gibt schließlich unzählige andere Events, die man stattdessen besuchen könnte. Offenbar verspricht Kunst immer noch etwas, das man im „Leben“ nicht bekommt. Aber ihr wird auch, wie schon oft im Laufe der Geschichte, gern vorgehalten, hinter dem Leben zurückzubleiben.

„Was sind tote Bildsäulen und Gemälde, rührten sie auch von den ersten Meistern der Welt her, zu einer Zeit, da man das große Schauspiel eines ganzen der Sklaverei entronnenen Volkes in den Momenten seiner politischen und moralischen Wiedergeburt beobachten kann?“, schrieb der deutsche Schriftsteller und Pädagoge Johann Heinrich Campe am 9. August 1789 nieder, als er die Aufstände der Französischen Revolution als Augenzeuge in Paris miterlebte. Gegenüber der unmittelbaren Gewalt der lebendigen Ereignisse schien ihm die künstlerische Fiktion nicht mehr konkurrenzfähig. Die Denkfigur, die Campes enthusiastische Worte leitet, finden wir schon einige Jahrzehnte früher bei einem britischen Denker, der die Französische Revolution abgrundtief verdammen sollte: bei Edmund Burke, der in seinen Überle- „Man lasse an irgendeinem Tage die erhabenste und eindrucksvollste unserer Tragödien aufführen; man wähle dazu die beliebtesten Schauspieler; man spare keine Ausstattung und Dekoration; man vereinige die höchsten Anstrengungen von Dichtkunst, Malerei und Musik; und dann, wenn alle Zuschauer versammelt sind, gerade in dem Augenblicke, in dem die Gemüter vor Erwartung aufs höchste gespannt sind, lasse man bekannt werden, dass auf dem benachbarten Platz ein Staatsverbrecher von hohem Stande sogleich enthauptet würde: augenblicklich wird die Leere des Theaters die relative Schwäche der nachahmenden Künste beweisen und den Sieg der wirklichen Sympathie verkünden.“

Auch heute gibt es zahlreiche Versuche, diese vermeintliche „relative Schwäche“ zu kompensieren. Anstatt sich mit der Fiktion zu begnügen, operiert man mit dem „Realen“. Santiago Sierra lässt echte Menschen in Kisten hocken, ihnen Linien auf den Rücken tätowieren oder simuliert das Erlebnis einer Gaskammer. Teresa Margolles setzt Blut von Leichen oder Wasser, mit dem sie gewaschen wurden, als Material ihrer Kunst ein. Viele andere Künstler folgen dem „unmittelbar Realen“ auf weniger spektakuläre Weise. Sie stellen umfangreiche Archive und Dokumentationen her, die Lebens- und politische Geschichten oder einfach nur den Alltag vor uns ausbreiten und kein Interesse an der Bündelung durch eine „Form“ erkennen lassen. Es bleibt uns überlassen, ob wir die Geduld aufbringen, das dargebotene Material sinnlich und gedanklich erfassen zu wollen.
Die seit den documenta-Schauen von Catherine David 1997 und Okwui Enwezor 2002 vor allem auf Biennalen stark präsenten dokumentarischen Formate sind die Rückkehr und gleichzeitig der Zusammenbruch der in der Moderne immer wieder unterdrückten Mimesis. Geliefert werden „Informa- tionen“ über die Welt, auch aus Kulturen und Regionen, die bisher vom Kunstbetrieb weitgehend unerfasst blieben. Unterdrückt wird allerdings die Lust, die traditionell die Nachahmung begleitet: nämlich die Freude am illusionistischen Spiel mit Realität und Abbild, mit der ästhetischen Grenze. Stattdessen wird ein „Engagement“ der Kunst politischen und gesellschaftlichen Fragen gegenüber erwartet, das sich aber häufig darin erschöpft, dass in raumgreifenden Installationen Materialien ausgebreitet werden, die in Büchern oder in Dokumentarfilmen, die keine Kunst sein wollen, besser vermittelt werden könnten. Ein Gegenbeispiel war die in Madrid, Karsruhe und zuletzt in der Sammlung Falckenberg gezeigte, von Georges Didi-Huberman kuratierte „Atlas“- Ausstellung, die eine Fülle von Material vorführte, es aber in eine von Aby Warburgs Bilderatlas „Mnemosyne“ inspirierte Themenstruktur einband. So wurde man auch als Besucher dazu inspiriert, den einzelnen Ausstellungsbereichen mit fast kriminologischer Neugier zu folgen.
Zurück zur ästhetischen Grenze. Schon in der französischen Revolution wurde sie anders als durch Nachahmung durchbrochen, nämlich durch abstrakte Systeme, die aufs Leben übertragen wurden. Die neuen Maß- und Zeiteinheiten der Revolutionszeit haben ihre ästhetische, aber meist auf dem Papier gebliebene Entsprechung in den geometrischen Grundformen der „Revolutionsarchitekten“ Boullée und Ledoux gefunden (siehe Abbildung und Seite 45). Diese nahmen, wenn man Werner Hofmann folgt, die Ästhetik des Fallbeils, der Guillotine, vorweg.

Ihre Gewaltsamkeit und Tödlichkeit sieht man der Guillotine nicht an. Man muß etwas über sie wissen, um sie zu erkennen. Insofern paßt sie in das neuzeitliche Weltbild, das Peter Sloterdijk 1987 in seinem Essay „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“ beschrieben hat: „Durch den kopernikanischen Schock wird uns demonstriert, dass wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern dass wir ihre ‚Wirklichkeit‘ gegen den Eindruck der Sinne denkend vorstellen müssen, um zu ‚begreifen‘, was mit ihr der Fall ist. Da liegt das Dilemma: wenn die Sonne aufgeht, geht nicht die Sonne auf. Was die Augen sehen und was der astrophysisch informierte Verstand vorstellt, kann nicht miteinander in Deckung kommen.“
„Gegen“ Kopernikus „sehen“ wir bis heute jeden Morgen, sofern der Himmel nicht zu bedeckt ist, die Sonne aufgehen. Der Augenschein steht der wissenschaftlichen „Wahrheit“ gegenüber, und in diesem Sinne kämpfen auch Künstler für ihre dem „Leben“ angemessene Sicht der Dinge. Genau das macht die Kunst lebendig. Wenn ihr aber der Wahrheitsbegriff des unmittelbar Gelebten und der ungefilterten Realität wie ein falscher Schuh angezogen wird, unterschlägt man die wichtigste Kraft, über welche die Kunst verfügt, nämlich die der Fiktion. Denn wenn auf der Bühne jemand stirbt, ist er nicht wirklich tot. Und wer Terroranschläge, denen viele Menschen zum Opfer fallen, als große Kunstwerke preist, hat sich emotional wirklich verirrt – auch wenn Edmund Burke ihm vielleicht sogar Recht geben würde.


Cénotaphe à Newton, 1784 (© Étienne-Louis Boullée)
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