Bei meinem Aufenthalt in Budapest Mitte Mai sah ich eine Kunstszene, die alles andere als im Aufbruch ist, vielmehr begegnete mir eine eher gedämpfte und abwartende Stimmung. Und ich frage mich, was von dieser Szene nach Berlin durchsickert, denn anders als Budapest, verbirgt sich Berlin ja mittlerweile hinter zitronengelben Fassaden. Vielleicht erinnert mich Budapest an Berlin in den frühen neunziger Jahren. Vielleicht werde ich deshalb so nostalgisch und sehe vor allem die alten Gründerzeithäuser mit ornamentalen Formen und farbigem Glas verziert; Art déco und Jugendstil und viel Staub und manches angegraut, verwittert und eigentlich abbruchreif. Tja, aber das ist nicht alles, denn über die Grundsubstanz aus Zeiten der Habsburger Monarchie legt sich eine dicke Schicht Gulaschkommunismus, viel Plastik, durchsetzt von kapitalistischen Reflexen: Kaisers an jeder Straßenecke. Vielleicht ist all das ein Ausdruck von Nostalgie, der verbrämt, so eine Art Heimatfilm-Kitsch.
So weit der erste Eindruck; am Abend sind wir dann zu einer Veranstaltung von Bea Hock, einer Kunstkritikerin des ungarischen Kunstmagazins Praesens, in die impex galéria gegangen. Das Thema erschließt sich mir bis zum Schluss nicht, denn der Vortrag war dann doch auf Ungarisch, tja. Mir fällt auf, dass sich ausnahmslos alle an der Debatte beteiligen und ausgesprochen enthusiastisch diskutieren. Später erfahre ich, dass es vor allem um die Situation ungarischer Künstler auf dem internationalen Markt ging. Denn die haben es angeblich besonders schwer, denn nachdem sie erst einmal die noch immer konservativen Ausbildungen an den Kunstakademien durchlaufen haben, warten kaum Stipendien auf sie, denn die gibt es für Nachwuchskünstler in Ungarn so gut wie nicht. Für Bea geht es vor allem darum, Fragen um die Spezifik ungarischer Kunst zu debattieren, um sie aus dem diffusen Bereich des allzu Möglichen herauszuholen. Im Laufe des Abends fällt häufig das Wort Post-Kommunismus und dass die junge, ungarische Kunst eigentlich unpolitisch sei, so paradox wie es klingt, bleibt es dann auch.
Zufällig erfahren wir von einer Veranstaltung von tranzit.hu, einem deutsch-ungarischen Kulturprojekt, und gehen mit ein paar Leuten spontan hin. Quer durch die Stadt, führt der Weg uns über mehrere Hinterhöfe, einer schließt an den nächsten an, schließlich in ein unbewohntes Haus, in den dritten Stock. In dem Rohbau hängen auffallend viele Lampen. Wenn man es genau nimmt, ist die marode Raumdecke vollständig von Lampen bedeckt, es erinnert an einem Verkaufsraum für Lampen im sozialistischen Design, alle mit vergilbten Preisschildern; von wem die Installation ist, ob es überhaupt eine ist, bleibt unklar. Der Vortrag findet dieses Mal glücklicherweise in Englisch statt. Lars Bang Larsen, ein dänischer Kritiker und Kurator, spricht über seine Populismus-Ausstellung im Frankfurter Kunstverein (2005). Er ist jung, kahlköpfig und macht einen sehr ehrgeizigen Eindruck. Beim Essen danach lädt Franziska Zolyom spontan alle zu einem Ausflug nach Dunaújváros ein, um dort die erste Fotóbiennále anzusehen. Sie leitet dort das Museum für zeitgenössische Kunst, nachdem sie länger im Berliner Museum Hamburger Bahnhof gearbeitet hat und dort unter anderem die Ausstellung nordischer Künstler (Berlin North, 2004) mitorganisierte.
Und so geht es dann weiter, am nächsten Morgen fahren wir nach Dunaújváros, der ersten sozialistischen Stadt Ungarns und so erscheint sie dann auch, post-kommunistisch. Die Fotóbiennále findet zum ersten Mal statt und ist an unterschiedlichen Orten in der ganzen Stadt verteilt, allerdings sind all diese öffentlichen Orte am Sonntag geschlossen. Deshalb hatten wir ausgiebig Zeit, die sozialistische Architektur anzusehen. Und so ging es dann weiter, eine Woche lang, geplant war eigentlich nichts, trotzdem hat sich ständig was Neues ergeben, spontan eben.
Und was von all dem dringt nun nach Berlin, ohne erneut in die verbrämende Nostalgiefalle zu tappen. Ausstellungen ungarischer Künstler in Berlin sind (leider) meist von einem aufklärerischen Impetus begleitet nach dem Motto, "die Folgen der langen politischen Trennung (…) überwinden", Veränderung des "bestehenden Verhältnisses von Zentrum und Peripherie" herbeiführen und die vollzogene eu-Integration unserer östlichen Nachbarstaaten", die darf natürlich auch nicht fehlen. So formulierte es Alexander Tolnay in einem Text zu "Tiefebene hochkant", der Ausstellung über aktuelle Kunst aus Ungarn (Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 2006). Wenn ein Text so beginnt, dann ist die Vorstellung von einer als Entwicklungshilfe für das Land gemeinten Ausstellung nicht weit, damit einher gehen Vorstellungen von dem Anderen, von dem, was mit dem Eigenen nicht identisch ist und fremd bleibt (bleiben soll), kurz: Exotismus. Dabei versprach die Ausstellung selbst ein ganz anderes Bild. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf diese oder Ausstellungen wie "Ohne Hort" im Collegium Hungaricum Berlin (chb im Haus Ungarn) eingehen, denn die bediente besonders einen Klischee-Blick, der leider allzu leicht Mitleid erregt. Ausgestellt waren Arbeiten zum Thema Obdachlosigkeit, auch in Form soziologischer Untersuchungen. "Wir brauchen die Kunst, wie das Brot", so Józef A. Tillmann, der Kurator der Ausstellung.
Da es, wie ich finde, keine wirklich überzeugende Gruppenausstellung ungarischer Künstler in letzter Zeit in Berlin gab, schaue ich mir lieber zwei Installationen von Hajnal Németh an. Die eine heißt: "Truck Facing Eastwards" (14.5.?3.6.2007) und befindet sich in einer Baulücke, dem temporären Skulpturenpark, auf dem alten Mauerstreifen zwischen Kommandantenstraße und Alter Jakobsstraße, gefördert von Bipolar, einem weiteren deutsch-ungarischem Kulturprojekt. Der Titel verrät schon vieles: Diagonal auf der Wiese steht ein lkw nach Osten ausgerichtet, abgestellt und umkreist von vier Tafeln aus Plexiglas, je in den Farben cyan, magenta, gelb und schwarz. Je nachdem wo man sich als Betrachter auf der Wiese befindet, sieht man den farblosen lkw durch eine andere Farbe und damit so Hajnal Németh, "nimmt man das Objekt als andere Realität wahr". Das alte Vehikel als solches, wäre für die Installation eigentlich vollkommen ausreichend gewesen, liegt es doch beinahe da wie ein Monolith und ruft Fragen nach dem Warum wach und beantwortet sie doch nicht, einfach so, ohne magentagetönte Brille. Formen der Ziellosigkeit auch als Ausdruck von Ennui und Langeweile beschäftigen Hajnal Németh seit einiger Zeit, wie auch in der Videoprojektion "Gitarrensolo" (17.5.?4.7.2007, chb): Zu Sehen ist ein altes Tonstudio in dem Musiker unzählige Male das gleiche Stück proben, immer wieder in schwarz/weiß. Zu Hören sind neben den musikalischen Fragmenten alle möglichen Töne wie Arbeitsgeräusche der Techniker, das Kratzen des Mikrofons, Wortfetzen der Musiker. Gerade die Momente des Experimentierens und Verweigern von Ergebnissen, beim lkw wie im Tonstudio, die Negation, interessieren mich daran. Doch auch in dieser Arbeit gibt es wieder eine Scheibe, zwischen Tonstudio und Aufnahmegerät, deren Sinnhaftigkeit für die Arbeit mir verborgen bleibt. Eingebettet ist die Projektion in einem Vortragssaal des chb und ich glaube es liegt genau an diesem sozialistischen Design der schweren Möbel, dass mir langsam langweilig wird.