Wer Mike Kelleys Wunderland der Erinnerungsarbeit betritt, passiert zunächst die Couch des Analytikers. Damit wird von vornherein deutlich gemacht, dass wir uns hier nicht allein durch eine farbenprächtige Comicwelt bewegen, sondern auch der menschlichen Psyche bei ihren erstaunlichen Tätigkeiten des Ordnens, Erinnerns, Verdrängens und Projizierens zusehen dürfen.
Kandors, so der Ausstellungstitel, ist der Plural von Kandor, und das ist wesentlich. Dabei weist das für den Superman-Comic erdachte Schicksal dieser fiktiven Stadt bereits derart offensichtliche symbolische Bezüge zum traumatischen Erlebnis und dem memorativen Umgang damit auf, dass man meinen könnte, es stamme ohnehin aus der Feder Kelleys: Kandor ist die Hauptstadt des Heimatplaneten Supermans, die der Bösewicht Brainiac auf Miniaturformat schrumpfte und stahl, bevor er schließlich den gesamten Planeten Krypton pulverisierte. Superman gelangte in der Folge wieder in den Besitz der Stadt, die unter einer Glasglocke aufbewahrt wurde, und letztendlich konnte er sie sogar samt ihrer Bewohner wieder auf ursprüngliche Größe zurückwachsen lassen. Bezeichnenderweise aber schuf sich der Superheld später selbst zur Erinnerung eine Miniaturreplik Kandors.
Als wolle der Comic auch die Unzuverlässigkeit von
Erinnerungen abbilden, hat Kandor durch die Jahre und Hefte hindurch in einer
Vielzahl von Ansichten und Darstellungsweisen existiert. Anhand einiger dieser
Versionen hat Mike Kelley nun mittels Kunstharz zehn dreidimensionale Modelle
der geschrumpften Stadt auferstehen lassen, deren Architekturen sich in
Farbigkeit und Formensprache stark voneinander unterscheiden: Einige scheinen
organisch und anisotrop gewachsen zu sein, andere einer futuristisch-kühlen
Architektur verhaftet, noch andere wiederum wirken wie eine Kollektion
erotischen Spielzeugs. Zwischen den auf Sockeln und größtenteils unter
Glaskuppeln präsentierten Kandors stehen riesige, untereinander durch Schläuche
verbundene Flaschen und Ampullen, streng geometrische und stark farbige
Raumteiler aus Plexiglas gliedern die Installation, Videos sehen Kristallen bei
ihrem Wachstum zu oder beobachten Flüssigkeiten, die in Destilliergerätschaften
gären und brodeln. Es brummt, zischt und blubbert, Ambientmusik ertönt. Die
Installation strahlt aus sich selbst heraus, dazu ist sie in die satten,
gedämpften Farben der alchimistisch lockenden Gefäße getaucht.
Zwar mag das enorme Werk verglichen mit anderen großen
Installationen Kelleys weniger rau, handgemacht oder improvisiert daherkommen,
doch ist es für die Umsetzung der Bildsprache des Comics absolut angemessen.
Mehr noch finden sich hier Verweise auf andere Künstler, wie etwa,
erwartungsgemäß, Roy Lichtenstein, vor allem aber bezieht sich Kelley selbst
ausdrücklich auf die Flächigkeit und Farbigkeit von Matisse, wobei es zwischen
Matisse und Lichtenstein bekanntlich gewisse formale Verwandtschaften gibt und
der Pop-Künstler etwa mit „Still Life with Sculpture“ (1974) Werke von Matisse
in seine Bildsprache übertrug. Doch beschränkt sich Kelley nicht auf die
Beschäftigung mit grundlegenden gestalterischen Fragen wie der Umsetzung der
Zwei- in die Dreidimensionalität und dem Bezug auf künstlerische Vorläufer.
Dies berührt nur die formale Seite seines Werkes, das zudem immer auch und vor
allem eine pointierte, einfallsreiche Verbildlichung psychologischer Prozesse
ist.
In Kandors verschränken sich gleich zwei der Hauptinteressen Mike Kelleys: sein Nachdenken über die Formen von Massenkultur, die er einerseits als für den Einzelnen prägend, andererseits aber natürlich als Ausdruck kollektiver Sehnsüchte und Ängste betrachtet, und – damit verknüpft – seine Beschäftigung mit den Vorgängen des Erinnerns, von Seiten des Individuums ebenso wie der Menge. Anhand der Geschichte des populären fiktiven Superhelden und seiner zutiefst verstörenden Kindheitserlebnisse lässt sich hier zugespitzt aufzeigen, wie die Psychoanalyse – und in Folge auch der Volksmund – den Umgang mit einer traumatischen Erfahrung mittels Verdrängung erklärt. Kandor existiert irgendwo in den Tiefen der Seele in vielfältiger Gestalt, die Kelley als mögliche, vielleicht parallel oder aufeinanderfolgende Gedächtnisbilder vorführt. Genau dies macht es so bitter, dass Kandors schließlich zum Zwecke des Verkaufes in Einzelteile aufgesplittert wird, denn die Installation ist als Ganzes nicht nur ästhetisch überwältigend, sondern ihr Konzept macht es zwingend notwendig, die einzelnen Erinnerungsversionen gemeinsam zu sehen.
Mike Kelley, „Kandors“,
Jablonka Galerie,
Kochstraße 60,
29.9.–22.12.2007