Die post-dramatische Klasse

Teil 1

2023:Februar // Shannee Marks

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02-2023

1. Castorfs „heiße Regie“

„Ohne Feindbild wirst Du Semmelbrösel“
(Frank Castorf)

Wie ich von der langjährigen Castorf-Dramaturgin Amely Joana Haag erfahren habe, ist Castorf „ein wütender Denker“. Er erzeugt willentlich „extreme Situationen auf der Bühne“. Er will „Anarchie auf die Bühne bringen“ – eben jene mikrokosmische Theater-Anarchie, auf die er ‚Zugriff‘ hat.
Wir trafen uns im Café Fleury in Berlin Mitte – es war ihr Vorschlag – der Ort wirkt gediegen und keineswegs wie eine anarchistische Anlaufstelle. Amely Joana Haag ist Dramaturgin am Berliner Ensemble, sie scheint mit dem Sang-froid einer sehr erfahrenen Kopilotin reichlich begabt zu sein.
Woher kommt Castorfs Wut? Hat es mit Klassenkampf zu tun? „Er hegt Verachtung für die bürgerliche (Doppel-)Moral und arbeitet aus einem großen Widerspruchsgeist heraus.“ (Amely Joana Haag) In der „Konzeptions-Probe“ für Fabian erklärt Castorf: „Und diese bürgerliche Moral ist eben auch eine des Klasseninstruments, womit man Macht ausüben kann. Immer.“ (Programmheft zu Fabian, Berliner Ensemble, Aufführung Juni 2022, S. 17)
Die bürgerliche Klasse übt nicht unmittelbar Macht aus. Sie braucht dazu Klasseninstrumente wie die bürgerliche Moral. Die bürgerliche Moral hat neuerdings das Kunststück vollbracht, aus sich selbst heraus ihren scheinbaren Widersacher als Antithese zu gebären – was sich ‚Klassismus‘ nennt. Durch ihren Strohmann Klassismus kann sie noch strenger alle sittlichen wie künstlerischen Abweichungen vom Konsens maßregeln. Nicht die ‚bürgerliche Moral‘, sondern ‚die Klassenreisenden‘ – die Überläufer oder Aufsteiger aus den Unterschichten – fordern (und überwachen) die absolute Anpassung. Die Schaubühne ist Hochburg dieses Klassismus-Dispositivs; die von ihr protegierte Klassismus-Expertin Francis Seeck sieht sogar die Anwendung englischsprachiger Ausdrücke als quasi ‚entartet‘ an, als einen Affront gegen die ‚Arbeiterklasse‘. Ihre ostdeutsche Familie wisse gar nicht was ‚working class‘ bedeute – der Begriff sollte unterbunden werden. Dennoch, auf die entwaffnende Frage des Schaubühnen-­Interviewers „Was ist eigentlich die Klasse? Gibt’s das überhaupt noch? Wie würdest Du gesellschaftliche Klasse beschreiben? Wie viele Klassen gibt es?“ antwortete Frau Seeck – „Für die Auseinandersetzung mit Klassismus finde ich es gar nicht so wichtig, eine scharfe Klassenanalyse zu machen“ (Christian Tschirner, „Arbeiterklasse an der Abendkasse“ in Schaubühne, August–Januar 2022–23, Seite 7–8).
Als ‚Klassenreisende‘ gleicht sie eher dem Baron von Münchhausen – sie reist über alle Klassen-Wolken hinweg.Aber in Fabian handelt es sich nicht nur um irgendeine beliebige bürgerliche Moral – es ist die deutsche Moral eines deutschen Moralisten. Sich dagegen zu wehren, im Leben wie auf der Bühne, ist Klassenkampf.
Deshalb Castorfs Frage: „Zu welcher Geschichte gehört man? (…) Man lernt meist nicht aus Geschichte und wenn man nicht aus Geschichte lernt, sollte man auch nicht Theater machen“ (Fabian-Programmheft, ibid., S. 14). Kommt seine Wut aus der deutschen Geschichte – aber aus welcher genau? Um aus Kästners behäbigem Roman Fabian eine vor Wut glühende Anarchie auf der Bühne zu schaffen, musste Castorf zwangsläufig viel von sich selbst hineinschütten. Kästner ist ein deutscher Moralist, ‚ein linker Melancholiker‘ (Benjamin). Aus ihm anarchische Impulse heraus locken zu wollen, ist wie eine Tracht Prügel auf einen toten Esel. Ein deutscher Moralist im Sinne Kästners spielt aus Trägheit (des Herzens) alles herunter. Er nimmt die Außenwelt nur als Quelle von Speis und Trank und erotischem Beiwerk wahr. Ganz im Gegensatz zu einem französischen Moralisten, der wie François de La Rochefoucauld, den Mensch aus seinen Leidenschaften her beurteilt und überall die Tarnungen des Amour-propre entdeckt. Fabian, der Moralist, ist aber anständig und hat moralische Prinzipien. Er will sich nicht dauerhaft von einer Frau aushalten lassen – höchstens für eine Nacht oder einen Nachmittag. Er lehnt auch empört das Angebot ab, selbst in einem männlichen Bordell als Sekretär einer Madam einzusteigen. Er denkt, wie Benjamin sagt, als Zwischenschichtler, als ‚Propagandist‘, Werbemann – ständisch. Nicht mal klassenmäßig. Um ihm überhaupt einen Reiz abzugewinnen, muss Castorf den Roman Fabian mit Chamissos Märchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte (in der Schlemihl seinen Schatten an den Teufel verkauft) anreichern. Gemeint dabei, sagte mir Amely Joana Haag, die Fabian- Dramaturgin, ist auch Kästner selbst, der Autor des Fabian und sein ambivalentes Verhalten im Dritten Reich.

Wie bringt Castorf „Anarchie auf die Bühne“? Obgleich ihm seine eigene intellektuelle Durchdringung des Stoffes von höchster Bedeutung ist, sei jene Bühnen-‚Anarchie‘ eher etwas Physisches, Praktisches.
Um Anarchie entstehen zu lassen, wendet Castorf viele Techniken an – aber vor allem ist es das, was in der Probe geschieht. Die Probe ist sein Frankenstein-Labor. Vor der Probe weiß man gar nichts, auch der Regisseur nicht – es herrscht Tabula rasa. Alles ist möglich und erlaubt. „Die Probe entsteht aus Improvisation, dazu gehört auch ein gemeinsamer Humor, man weiß vorher nicht, was kommt“ (Amely Joana Haag).
Die Probe ist kurz und intensiv – rohe Texte aus der Vorlage (oft ein Roman, kein Stück) werden vom Regisseur einmal im gewünschten Duktus vorgesagt – der Schauspieler muss ihn gleich wiedergeben. Es ist eine extreme Form des Prima- vistas. Genauso geht es mit anstrengenden, artistischen Bewegungen und Handlungen auf der Bühne, die Ergebnisse der gegenseitigen Reaktionen und Improvisationen werden täglich gefilmt und notiert, die Zufälle festgeschrieben im „Regie-Buch“. Es ist die „heiße Regie“. Das Ziel dieser ‚Methode‘ ist die Ausschaltung der rationalen Kontrolle bei den Schauspielenden. Aber Castorf, sagt Amely, arbeitet sich selbst auch in eine Rage hinein. „Die körperlich in die Extreme gehenden Schauspieler sollen dabei in einen Zustand kommen, in dem ihr Körper sozusagen ins Denken kommt – das interessiert ihn, den intellektuellen Boden dafür schafft er in der Regie“ (Amely Joana Haag). Das Sinnliche lässt sich nicht mehr vom Intellektuellen genau unterscheiden. So wie Francis Bacon sagen würde – alles wird direkt im Nervensystem registriert.

Castorf geißelt nicht nur – er liebkost seine Schauspieler auch. Nach der Jelinek-Aufführung Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!, gequetscht zwischen Schauspielern, Entourage e tutti quanti bei der After-Feier am langen Veranda-Tisch der Bar im Deutschen Theater, hörte ich aus nächster Nähe gebannt zu, wie Castorf im Kerzenschein eine halbstündige, backfischhafte Liebeserklärung an Branko Samarovski face to face hypnotisch aussprach. Castorf: „Sie sehen so gut aus – Sie sind mir nicht alt genug (...) Sie wären ein großartiger König Lear. Ich schaue jeden Fernsehfilm an, in dem Sie spielen.“ Branko: „Ich war nicht in so vielen Fernsehfilmen.“ Es war ein Kniefall vor dem 80-jährigen Schauspieler. Als ich mich verabschiedete, drückte ich Castorf meine Bewunderung für sein freizügiges Lob für den Schauspieler aus. Castorf mit festem Händedruck: „Ein alter Mann.“ Wobei ich unsicher war, ob er sich oder Branko meinte.

2. Die „Absolute Ironie“

Castorfs Jelinek-Inszenierung unterscheidet sich sehr von Castorfs Fabian-Inszenierung – trotz einiger ähnlicher Techniken, wie der Live-Kamera auf der Bühne, die Hinterzimmer, wo bestimmte Szenen gespielt und live gefilmt werden und der meist brüllende Vortrag der Schauspieler.
Mit Jelineks in sich anarchischem wütenden Text ist die Anarchie auch im wörtlichen Sinn – ohne Prinzip zu sein (an-arche) – schon beheimatet. Vor allem fühlt man sich aus der Verwahrung in der seltsam luftlosen Bunkerhaft (von Fabian und dengleichen) der Berliner/deutschen Geschichte kurzweilig entlassen.
Jelineks Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!, ein Gastspiel des Burgtheaters aus Wien bei den Autor:innen Theatertagen des Deutschen Theaters Berlin, ist ein Sauf- und Taumelstück: „ein Pastiche aus Tratsch, Wikipedia, Kalauer, auf der Basis von dem Zehnten Gesang der Odyssee und Pandemieüberlegungen“ (Sebastian Huber, Dramaturg des Stückes, Burgtheater – aus seinem Einführungsvortrag im Deutschen Theater).
Während sie allerlei burleske/clowneske Handlungen ausführen, wie sturzbetrunkene Saufgelage mit aufgereihten Shot-Gläsern und Anflügen von simulierter Fellatio (mit Bananen) und Cunnilingus-Szenen mit einem Jahrmarkthammer, ist die von den Schauspielern deklamierte Textkulisse hauptsächlich aus klassischen Texten geschaffen. Wie vor allem aus dem Zehnten Gesang der Odyssee, dem Kapitel von Odysseus’ Aufenthalt bei der Zauberin Kirke, die seine Mannschaft vorübergehend in Schweine verwandelt. Oder auch Philosophisches wie Horkheimers Text Der Wolkenkratzer. Fest umrissene Charaktere gibt es nicht. Die Schauspieler stellen schimärenhafte Phantasiegebilde aus Literatur und Geschichte dar – ein ‚Medizinmann‘ im schamanistischen, bodenlangen Strohkleid, der mit einem riesigen Jahrmarkt-Hammer um sich schwingt, ergänzt dieses Hybrid zwischen Völkerschau und Madame Tussauds. Oder ist der Schamane bloß ein Strohmann? Soll das andeuten, dass unsere Welt aus lauter Strohmännern und Prügelknaben besteht? Leitmotiv ist das Opfersein – das Wehrlos-ausgeliefert-Sein an die Pest, an die Inquisition, an das unerbittliche Eindringen ‚der Mächtigen‘ in das Leben des Einzelnen. Wobei hier ein Staunen entsteht – dass die Mächtigen so gnädig sind, sich mit uns zu beschäftigen. Es ist fast wieder ein Gunsterweis. „Der Herzog hat gegrüßt“, wie es im jiddischen Witz heißt. Die Art des Vortrags ist mokierend, höhnisch gegen Himmel und Erde, augenrollend melodramatisch – die Emotionen von Terror, Leiden, Schmerz und Corona-Paranoia sind übertrieben artifiziell ‚gespielt‘ – wie in der Gebärdensprache des Stummfilms. Die Absicht ist jedoch nicht die Überhöhung, sondern die Verhöhnung des Gefühls. Die Bühne ist aber fast niemals stumm. Mit Text (Jelineks „Wort-Katarakt“, angeschwollen mit vielen anderen ‚Fremdtexten’) wird laut gehämmert und gebohrt, aber der Sinn wird systematisch durch die Bühnen-Phantasmagorien entführt, unterminiert, die Sprache zum bloßen Sound gehäutet. Alles entsteht unter der Hegemonie der „absoluten Ironie“ (Frank Castorf im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt über seinen ‚Stil‘). Absolute Wut entlädt sich in der absoluten Ironie – in sich ein anarchischer Prozess.
So betrachtet, ist Lärm … vielleicht ein Lehrstück im Wesen des post-dramatischen Theaters. Dennoch gibt es mitten in der absoluten Ironie des Stücks einen ‚Stilbruch‘, eine Insel des echten Pathos – das Trauern um das ­Leiden der Schlacht-Tiere, hauptsächlich um das Totem des Abends, das tote zerlegte Schwein.
Immer wieder fliehen die Schauspieler in Lärm … freiwillig in die Gefängniszelle auf der Bühne. Das erste Bild zeigt Mehmet (sein echter und sein Bühnenname) und eine der weiblichen Schauspielerinnen gelangweilt halb liegend auf Bananenkartons, als wären sie blaumachende Lagerhallenarbeiter im ‚Bananen-Bunker‘. Die Zelle als Ort der Zuflucht und der Geborgenheit – in einer Welt der Überwachung und Pandemie – oder ein Zero-Hour-Contract-Arbeitsplatz? Die Zelle kleidet sich später um, nimmt ihre traditionelle Gefängnisbedeutung wieder an. Sie ist die Zelle eines Rabbiners, ein Gefangener der Inquisition, der zum Tode durch den Scheiterhaufen verurteilt ist, eine Figur aus einer Geschichte von Auguste de Villiers de l’Isle-Adam. Seine Henker treiben ihren ‚Sport‘ mit ihm, nach einem Jahr auf der Folterbank lassen sie ihn die qualvollste Folter spüren – die „Folter der Hoffnung“. „Let them live in hope“ sagt Gaveston, der Königs-Günstling am Anfang von Marlowes Stück Edward der Zweite. ‚Aus Versehen‘ lassen die Henker die Zellentür auf – der achtzigjährige Schauspieler Branko (auch so namentlich gerufen auf der Bühne – das Theater spielt immer wieder sich selbst) – schleppt sich bäuchlings (in Real-Time) die eiserne Treppe hoch. Es dauert sehr lange. Die Live-Bühnenkamera fängt die Grimassen und das Krächzen seiner Anstrengung genaustens ein. Vor der panoptischen Kamera ist für die Schauspieler ohnehin kein Entrinnen – aber das gehört zum Spiel, zum Stil der Regie. Am Ende dieses Kletterns zur Freiheit empfängt ihn der Chef-Inquisitor mit einem Totenkopf-Grinsen– vertreten durch die Bühnen-Blondinen und den Schweine­mann-Schauspieler. Der Rabbiner begreift augenblicklich, dass sein Treppen-Klettern seine ersten Schritte zum Schafott gewesen sind.

Horkheimers kurze markante Notiz Der Wolkenkratzer drückt vielleicht die verborgene ‚Rest-Ethik‘ des Stücks aus: „Unterhalb der Räume (des Wolkenkratzers), in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere“ (Max Horkheimer, Der Wolkenkratzer).
Implizit ist diese Tierhölle auch ein Teil der menschlichen Gesellschaft, die Tiere dadurch vermenschlicht, sie bilden quasi eine Unklasse unterhalb aller Klassen.
Das eigentliche Proletariat befindet sich weit oberhalb der nicht europäischen Kulis in Horkheimers Wolkenkratzer – gleich nach den „Handwerkern, Krämern und Bauern e tutti quanti“. Die westliche Arbeiterklasse gehört pas du tout zu Frantz Fanons „les damnés de la terre“. Weit unter ihnen liegt „das eigentliche Fundament des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem furchtbaren Ausbeutungsapparat, der in den halb und ganz kolonialen Territorien, also in dem weitaus größten Teil der Erde funktioniert.“ Diese Skizze des globalen Südens wirkt ein wenig veraltet und statisch – heute haben Länder wie Indien und China, Brasilien, sogar Teile von Afrika, die von Horkheimer noch zum tiefsten Souterrain des Hochkapitalismus gezählt wurden, ihre eigenen Wolkenkratzer.
Für Horkheimer ist seine Tier-Ethik unzertrennlich von seinem starren Bild der Klassengesellschaft – ob dies auch für Lärm … gilt, ist, wie das ganze Stück, höchst ambigue und doppelbödig. Philosophie gehört zu den Requisiten, zum Inventar, zum Bühnenbild – wie der trojanisch anmutende, molochartige, eiserne Kriegerkopf, ein symbolisches Amalgam, das die Bühne dominiert – eine Art Bleikammer des Spiels. Wenn überhaupt ‚Philosophie‘, dann nur im Spiel – das Leben als Video-Game.
Das Proletariat tauchte unerwartet im Stück auf – fast eine Cameo-Rolle. Derselbe Schauspieler, der bis dahin einen grunzenden, in ein Schwein verwandelten Odysseus-Seemann gespielt hatte und in einem rosafarbenen, wattierten, glänzenden Handkostüm samt rotlackierter Tippfräulein-Fingernägel detailliert und direkt vom Schlachthof der Schweine schweißtriefenden Rapport erstattete, fing abrupt an, einen Operaismo-Text mit derselben Sprech-Rage vorzutragen. Sein Auftritt wurde zum Höhepunkt der Aufführung an diesem Abend – vielleicht war dies auch eine archetypische post-dramatische Szene in Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!. Sein Gesicht im Video-Close-up war qualvoll anzuschauen – die rotzige Nase, ein Heiligenschein von Pickeln um den schäumenden Mund, ein epileptischer, ins Weiße gehender Blick – er schien am Rande des Zusammenbruchs.
Ein Zuschauer in der ersten Reihe beschwerte sich darüber, dass er oder sie vom Schweine-Hand-Mann-Schauspieler angespuckt wurde. Er unterbrach sich kurz, um den Zuschauer zu mahnen: „Wer nicht angespuckt werden möchte, soll nicht in der ersten Reihe sitzen.“ Großer Applaus. Die Person nahm ihren Rucksack und ging zügig raus. Noch mehr Applaus.
Ohne weitere Unterbrechung und Verzögerung wurden operaistische Thesen von ihm in Amok-Reden übersetzt. Sie erzeugten im Publikum ein fast hysterisches tollwütiges Gelächter. „Wenn es hysterisch ist, ist es historisch“ („If it’s hysterical, it’s historical“).
Jede trockene doktrinäre Phrase peitschte wie ein Kalauer auf das Publikum – eine unfreiwillige Komik ist ausgebrochen. Vor allem das wiederholte Reizwort von der ‚lebendigen Arbeit‘ löste unkontrollierbare Kaskaden von Heiterkeit aus. Auch bei Vorschlägen für den Widerstand – Krankschreiben, Ficken, Saufen – drohte das Publikum fast an seinem Lachen zu ersticken.

Ich habe auch die Sonne von Austerlitz gesehen – und war selten so bei einem Theaterstück zum Lachen gereizt. Warum? Ein postdramatisches kathartisches Geheimnis? ­Lachen wie Gähnen ist doch ansteckend. Besoffene finden alles komisch. Das Publikum hat sich am redetrunkenen operaistischen Wortschwall berauscht.
Oder vielleicht war das Publikum besonders feinfühlig post-marxistisch geprägt? Hat diese Hilarität etwas mit der Arbeiterklasse selbst zu tun – mit deren Unauffindbarkeit, Undefinierbarkeit, Unentscheidbarkeit?

3. Die Ausweitung der Ex-DDR (Klassen)-Kampfzone

„Was ist für Sie die deutsche Vereinigung?“
„Eine Form sublimer Kolonisierung,
gegen die ich mich wehren werde (...).“

(Gespräch zwischen Hans Dieter Schütt
und Frank Castorf)

„Das dialektische Denken ist fast verschwunden.“
(Amely Joana Haag)

Klassenkampf ohne Klassen?
Als untauglich verwirft der ‚postmarxistische‘ Denker Ernesto Laclau das Modell einer fest umrissenen, geschichtlich notwendigen Klassenstruktur mit ihren ­jeweiligen Klassensubjekten. Horkheimers Wolkenkratzer wäre für ihn ein Beispiel einer solchen traditionellen marxistischen Anschauung. Stattdessen spricht Laclau von flüchtigen, fluktuierenden, instabilen, kontingenten Machtgebilden, die er in Folge von Sorel und Gramsci Hegemonien nennt. Solche Hegemonien können viel schneller entstehen und verfallen als vertikale Stufen-Hierarchien, Rang- und Ordnungssysteme. Klassen verlieren ihre festen Formen, sie sind liquide verlaufende, fast situationistische Phänomene – wie das Kapital selbst. Die Macht wandert, sie ist ‚an-archisch‘ subjektlos geworden, hat keinen festen Wohnsitz mehr. Was bleibt, ist dennoch die Konfrontation zwischen gesellschaftlichen antagonistischen Kräften – eine Topologie des Klassenkampfs ohne Klassen.
In der DDR war naturgemäß der Westen im Allgemeinen der ‚Klassenfeind‘, aber der besonders perfide intime Klassenfeind war Westdeutschland. Ob es umgekehrt der Fall war, ist weniger gewiss. Im herkömmlichen kapitalistischen Systemdenken redet man nie direkt von Klassen (erst recht nicht vom Klassenfeind), eher von Schichten, sozialer Stratifikation, sozialen Hierarchien – oder ökonomistisch von ‚human resources‘, ‚human capital‘, aus denen Menschen/Individuen im besten Fall zu ihrer eigenen ‚monetarisierten‘ ‚Brand‘ aufsteigen können. Es sind meistens neutrale statische Begriffe, die einen prädestinierten, präformierten Antagonismus zwischen sich gegenseitig ausschließenden, politisch-ökonomischen Gruppen oder die dialektische Notwendigkeit der kollektiven Aktion als Klasse gar nicht anerkennen. Alle gesellschaftlichen Unterschiede sind mit Vorliebe im Vokabular des Geldes, des Kapitals oder der Verwaltung gemünzt. Die ‚Klassen‘-Feindschaft ist deshalb um so subtiler, tödlicher. Für den Westen hat sich die Klassenfeindschaft gegen den Osten mit dem ‚Kalten Krieg‘ umhüllt.
Im „Arbeiter- und Bauern-Staat“ DDR war der Klassenkampf im alten Sinn offiziell schon überwunden. Dieser Geburts-Mythos gehörte zum Apriori dieses Staates. Der Klassenfeind war nach außen verlagert worden. Die Mauer war die gegenständliche Offenbarung und Real­abstraktion dieses Aprioris. Bei den widerspenstigen ehemaligen DDR-Bürgern wie Frank Castorf oder Peter Atanassow und Hans-Dieter Schütt (jeweils Regisseur und Dramaturg vom aufBruch-Gefängnistheater) bestimmt diese DDR-Version des Klassenkampfs noch heute ihr Gemüt. Natürlich unter der neuen Prämisse, dass das Äußere nicht mehr vom Inneren zu unterscheiden ist. Man muss sich anders wehren. Aus dieser Einstellung heraus erklärt sich zum Teil die tiefe Abneigung, die Castorf gegen Peter Stein offen hegt. Stein ist für ihn im künstlerischen Bereich der ‚Klassenfeind‘ Inbegriff der westdeutschen dünkelhaften deplatzierten Siegermentalität, „des westlichen Siegertyps“ (DJ Stalingrad), da sich der Westdeutsche früh als Teil der westlichen Siegermächte zugehörig fühlen durfte.
Stein rede in Moskau herablassend über Russen „mit der Blasiertheit, die jedem Wehrmachtsoffizier zur Ehre gereicht hätte“ – „Ich mag diese großen westdeutschen Kunstpersönlichkeiten nicht (…) Und die Selbstüberhebung eines Mannes, der in Salzburg nicht den Erfolg hat, den er sich wünschte. Das sind so die letzten Fluchten der Westberliner Provinzarroganz (…)“ (Frank Castorf, Die Erotik des Verrats, 5 Gespräche mit Hans-Dieter Schütt, Alexander Verlag Berlin, 2015, Seite 83–84). Und noch kryptischer, warnend im Stil des mafiosen Territorial-Krieges: „Wenn Stein den Fehler macht, herzukommen (…). Nicht mal einen Etappensieg bekommt er hier. Das ist das Gute an Berlin, es ist seine ästhetische Qualität“ (ibid.). Es waren zwei Klassengesellschaften, zwei Hegemonien, die aufeinandergeprallt sind. Das neu entstandene Ganze – die angeschwollene BRD – besitzt nicht nur eine einzige Klassenstruktur, sondern zersprengte Fragmente von zwei Systemen. Keine klassische Kolonisierung – es geschah eher animalisch, wie sich eine Boa constrictor einen Hasen einverleibt. Die Verdauung hält noch an. In ökonomischer Hinsicht handelte die westdeutsche BRD wie der Internationale Währungsfonds oder ein Weltkonzern – als solche war die Übernahme der DDR und all ihrer nationalen Ressourcen, industriellen, wirtschaftlichen Assets etc. mittels der Treuhand und unzähliger kleiner Zaren der verschiedenen westdeutschen Wirtschaftszweige nichts anderes als ein gigantisches Mega-Take-over. Zufällig, auf der Suche nach einem Haus, in der Nähe der Haveldüne in Spandau, traf ich einen sportlichen älteren Herrn, den Vermieter, der unmittelbar an diesem Asset-Stripping beteiligt war. Von Beruf her war er Elektro-Ingenieur. Die „deutsche Vereinigung“ hat ihm vorübergehend eine große Macht verliehen. Er hat sich bei mir damit gebrüstet, „den ganzen maroden ostdeutschen Energie-Sektor“ saniert zu haben. „Als ich anfing gab es 29000 Arbeitnehmer – am Ende blieben es 6000.“ Das Haus bekamen wir auch nicht.
Aus westdeutscher Sicht war diese gewaltige Übernahme eine ‚Rettung‘. Der DDR-Staat, die Volks-Ökonomie war ‚pleite‘ – ein ökonomischer Kadaver. Was entstand, war zunächst Ex-DDR unter neuem westdeutschen Management. Nur die Dimensionen des Take-overs waren extraordinär – ein ganzes Land und seine Bevölkerung, sein Staatsapparat einschließlich der Staatsgewalt wurden verschlungen. Aus einer scheinbar bloß ökonomischen pragmatischen Übernahme ist eine totale politisch-ökonomische Entmachtung geworden. Als solches agierte Westdeutschland der DDR gegenüber wie eine neoliberale Kolonial- und Siegermacht. Die Methode ist vielleicht gar nicht so neu – die britische Kolonisierung und Eroberung Indiens lief zunächst über die East India Company.
Die Bruchstücke der verschluckten DDR sind noch erkennbar. Der neue Leviathan ist keine Synthese der beiden geworden. Ein Riss ist geblieben – noch virulenter, weil unsagbar, zersplittert und ohne Sakramente, mehr im Niemandsland verschüttet, als begraben. Wie in Antigone.

(Der 2. Teil ihres Essays Die post-dramatische Klasse mit einem Fokus auf das Gefängnistheater aufBruch mit Regisseur Peter Atanassow und dem Dramaturgen Hans-Dieter Schütt folgt in der nächsten Ausgabe der von hundert)

Fabian-Inszenierung von Frank Castorf im Berliner Ensemble, Foto: Matthias Horn
Fabian-Inszenierung, Foto: Matthias Horn
Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!-Inszenierung von Frank Castorf, Burg-Theater, Wien, Foto: Matthias Horn
Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!-Inszenierung von Frank Castorf, Burg-Theater, Wien, Foto: Matthias Horn