Schon beim Durchqueren des Kulturbahnhofs mit den auf den Boden geschriebenen Sprüchen von Dan Perjovschi stellt sich ein Kassel-Gefühl ein: Alles geht hier etwas langsamer, dafür sind die Besucher*innen aufmerksamer und neugieriger als in busy Berlin. Ich beginne mit dem ruruHaus, in dem der Eintritt frei ist und mag sofort die angenehm geschäftige und lebendige Stimmung dort. Die Mischung aus Info-Center, Veranstaltungs- und Ausstellungsort ist ein guter Einstieg, um sich einen Überblick zu verschaffen und einen ersten Eindruck zu bekommen. Im Anschluss wandere ich über den Friedrichsplatz zum Pressecenter, bekomme dort einen Café angeboten und darf einen Katalog umsonst mitnehmen, was sonst nicht üblich war. Augenblicklich macht sich ein Gefühl von Gastfreundschaft und Großzügigkeit breit, wobei ich mich frage, ob dies exemplarisch ist oder ein schlauer move, um die Presse zu bestechen. Mein Herz schlägt für erstere Variante, obwohl die hohen Ticketpreise etwas anderes nahelegen.
Durch die knallende Sonne ziehe ich weiter in die documenta-Halle und mag hier die Film-Arbeiten, die nicht so theoretisch referentiell abgesichert, ironisch überhöht oder dreifach gebrochen sind, sondern konsequent dokumentarisch (Wajakuu Art Project) oder ehrlich trashig (Wakaliga Uganda – Ramon Film Productions). Was mich dagegen ratlos zurücklässt sind Arbeiten wie das riesige Mural vom Britta Arts Trust aus Bangladesch oder die Skateboard-Rampe, die zwar überwältigen und irritieren, doch ohne ergänzende Hintergrundinfos nicht ihr ganzes Potential entfalten, weil sich die Geschichte bzw. der kooperative Ansatz dahinter nur unzureichend vermittelt.
Im Fridericianum und im Hübner-Areal bin ich ebenfalls hin- und hergerissen: mal finde ich die Vielfalt toll und lass mich gerne in die unterschiedlichen Kontexte ein, mal fühle ich mich überfordert, finde keinen Zugang, finde es zu wuselig und zu unfokussiert. Ein gutes Beispiel sind die Archive, die im Fridericianum ausgestellt sind. Es gibt welche, die gut funktionieren wie das RomaMoMA der Off Biennale Budapest, die mit großartigen Arbeiten einen tollen Einblick geben, und andere, bei denen die begrenzte Auswahl einen random-artigen Eindruck hinterlässt.
Dieses ambivalente Gefühl zieht sich durch meinen ganzen Ausstellungsbesuch: Ich freue mich über die unterschiedlichen Kontexte und Arbeitsweisen, denen ich hier begegne und zu denen ich sonst kaum Berührungspunkte habe, weil sie sich häufig an den Rändern des Kunstfeldes bewegen oder aus dem Fokus des öffentlichen Interesses herausfallen. Doch bleiben einige in einem Dazwischen hängen: Sie sind weder überzeugende künstlerische Arbeiten, noch gelingt es ihnen, die spezifischen Kontexte, aus denen heraus sie entstanden sind – seien es kollektive Strukturen oder aktivistische Zusammenhänge – transparent zu machen. Zugleich sensibilisiert mich die Vielzahl von dokumentarischen Arbeiten und partizipativen Settings, die man sonst selten in dieser Dichte nebeneinander sieht, dafür, was wie (nicht) funktioniert. Was ich zudem angenehm finde, ist, dass es nicht nur um das Elend der Welt geht (ein Eindruck, den die Berlin Biennale bei mir hinterlassen hat), sondern ebenso sehr um Heilung, Empowerment und good-practice-Beispiele.
Apropos Ambivalenz: In den vielen Gespräch, die ich vor Ort und im Anschluss führe, finde ich auffällig, wie stark die Meinungen und die Beurteilungs-Kriterien zur documenta insgesamt, aber auch zu einzelnen Orten und Kunstwerken auseinandergehen. Woran liegt das? Einerseits sicherlich daran, dass die Rezeption stark davon beeinflusst ist, wie viel Zeit man mitbringt, mit welcher Voreinstellung und in welcher Konstellation man schaut. Andererseits wohl auch daran, dass sich die Beurteilungs-Kriterien vervielfältigt haben und eine Dekanonisierung stattfindet – für mich ein Zeichen dafür, dass der postkoloniale Anspruch fruchtet. Ich empfinde es als Ansporn, die eigenen Kriterien zu hinterfragen und zu schärfen.
Beim Ahoi Bootsverleih angekommen, steuer ich sofort auf die Pommes zu und halte meine Füße in die angenehm erfrischende Fulda. Ich nutze den Moment, um mir die Einleitung in der Publikation durchzulesen. Der Text ist hilf- und aufschlussreich, um mehr über das Konzept, den Prozess und die Strukturen zu erfahren. Ich finde bemerkenswert, dass offen über Geld geredet und überlegt wird, was es für Alternativen zu den klassischen Mechanismen des Kunstmarktes gibt, falls Kunstwerke verkauft werden. Ich lese über die Dezentralität als Motto und den Anspruch, nachhaltig zu wirken, statt konsumierbar zu sein. Im Vergleich zu anderen Ausstellungen, in denen Anspruch und realer Eindruck häufig auseinanderklaffen, habe ich das Gefühl, es ist ruangrupa gelungen, ihre Ziele umzusetzen: Statt greenwashing oder heißer Thesen-Luft wird hier konkret und gemeinsam nach Alternativen zur Wachstums-Logik gesucht und eine Überwindung postkolonialer Strukturen umgesetzt.
Wie konnte es passieren, dass diese Fragestellungen in der öffentlichen Debatte vollkommen untergegangen sind? Hätte es geholfen, wenn ruangrupa ihr Konzept noch stärker innerhalb der Ausstellung transparent gemacht hätten – zusätzlich zum Katalog (den sich nicht jede*r hat leisten können) und den Diagrammen, die u.a. im Fridericianum aufgehängt waren?
Im Rückblick ziehe ich den Hut vor dem Mut, das ganze documenta-Ding auf verschiedenen Ebenen neu zu denken und auf ungewohnt konsequente Weise die Perspektive des „globalen Südens“ nach Kassel zu bringen – in all seiner Gebrochenheit, Plakativität und unverfrorenen Frische. Was noch hängen bleibt: das Bedürfnis, die Antisemitismusvorwürfe in ihrer Massivität zu hinterfragen und auf ihre rassistischen Anklänge gegenüber dem globalen Süden und dem Islam zu überdenken.
P.S. Kurz nach meinem Besuch in Kassel geht das Ausstellungsprojekt „Klassenfragen – Kunst und ihre Produktionsbedingungen“ in die heiße Phase über. Es ist eine Kooperation zwischen nGbK und Berlinischer Galerie, in deren Räumlichkeiten die Ausstellung stattfindet. Das fünf-köpfige Kurator*innenteam, seine unkonventionelle kollektive Arbeitsweise und der inhaltliche Schwerpunkt rufen immer wieder Irritationen hervor und provozieren Reibung. Es gibt Momente, da geben wir uns kämpferisch und andere, in denen wir vor Erschöpfung in Selbstzweifel verfallen. Wir, die auf verschiedenen Ebenen Marginalisierungserfahrungen gemacht haben, wollen unsere Professionalität unter Beweis stellen und geben alles, doch die Skepsis, die uns entgegengebracht wird, und der zum Teil maßregelnde Ton, mit dem wir zu tun haben, führen dazu, dass es Momente gibt, in denen wir nicht mehr kooperativ sein wollen und „anti“ werden. Ich entwickle vor diesem Hintergrund noch einmal ein anderes Verständnis für das Verhalten von ruangrupa und allen marginalisierten Personen, die den Weg in die Institutionen wagen und aufgrund der ambivalenten Erfahrungen, die sie dort machen, um Selbstbestimmung ringen/in Schweigen verfallen/sich zurückziehen/aufhören, sich integrieren zu wollen.
ruru-Haus, Foto: Nicolas Wefers, 2020
Dan Perjovschi, Courtesy documenta fifteen, Kassel. Foto: Frank Sperling