So brutal die Auflösung des Menschen bei ihm ist, so schön lässt der Künstler Jeremy Shaw sie aussehen. Wie in einem Kaleidoskop fallen in den prächtigsten Farben Bruchstücke aus- und ineinander. Ein Meer aus Schlieren, gezogen von den Umrissen der fotografierten menschlichen Figur. Digitale Animationen werden jeweils zu den ästhetischen Höhepunkten seiner drei Filme bei Julia Stoschek: Schmerzhaft für die Ohren unterminiert dann eine Audiospur aus überdimensionalen Schlürfgeräuschen den visuellen Genuss, so als würde der Mensch einfach mal von dem digitalen Drachen abgesaugt.
Unter dem Titel „Quantification Trilogy“ sind die zwischen 2014 und 2018 entstandenen Video-Arbeiten zusammengefasst. Die dystopische These lautet: „Durch eine wissenschaftliche Entdeckung sind sämtliche Parameter transzendentaler Erfahrung empirisch erfasst worden”, so der Pressetext zur Ausstellung.
Wir sehen Bilder aus einem Gestern in der Zukunft. Ja, verwirrend seine Inszenierung in Schwarzweiß, die einen sofort in ein vergangenes Jahrhundert schickt. Ist man in den 40ern, in den 70ern? Nein, 500 Jahre später soll das spielen, führt einen eine pseudo-dokumentarische Sprecherstimme aufs Glatteis.
Die weichen Schwarzweißbilder lassen die Gestalten vertraut erscheinen. Wie echte Menschen sehen die aus. Ihren Mangel an Selbsterfahrung kompensieren sie mit verschiedenartigen Methoden. Hier heißen die mal THE HIvE, THE UNITS … Also sieht man Personen, die sich im Rahmen eines Tanz-Workshops in einen tranceartigen Zustand headbangen oder amerikanische Bürgerliche im Anzug, die im Angesicht einer Schlange in Ekstase zu Boden gehen. Die Stimmen der Sprechenden sind so manipuliert, dass man ihre Sprache nicht mehr verstehen kann. Untertitel liefern eine pseudo-sprachhistorische Übersetzung.
Jeremy Shaw handelt die Einzigartigkeit des Humanen am Beispiel des Tanzes ab. Die Fähigkeit zu tanzen, diese scheinbar sinn- und zweckfreie Bewegung, in der sich die Spezies wohlgefühlt haben soll.
Im großen Saal beobachten wir auf einer Projektion im Kinoformat die Anmut eines professionellen Tänzers. Im Film ist er ein Subjekt, das sich medizintechnisch hat manipulieren lassen, um eben doch noch Spiritualität / Fantasie / Liebe / Transzendenz erfahren zu können. Eine Art Genie-Doping ist das.
Ein einzelner Mann in einem kargen, leeren Probenraum erobert sich Autonomie. Laban-Bewegungen zu wabernd vollmundigem Ambientsound. Getanzte Verbundenheit mit einer untergegangenen Welt.
Das ist kein leichter Stoff, den er uns da vorsetzt. Nach zwei Stunden quantifizierter Welten darf man hinter seiner Maske geschafft sein. Dankbar für dieses Werk verlässt man den Stoschek-Palast mit dem bodenlosen Gefühl, dass das nicht die Zukunft war, sondern irgendwie unsere Welt von heute.
Jeremy Shaw „Quantification Trilogy“
Julia Stoschek Collection, Leipziger Straße 60, 10117 Berlin
5.9.–29.11.2020,
Frankfurter Kunstverein, 25.9.– 28.3.2021,
Julia Stoschek Collection, Düsseldorf, 17.1.–6.6.2021
Jeremy Shaw, „Quantification Trilogy“, Foto: Alwin Lay