Eine Archäologie autonomer Zeitungen in den 90ern:
Das hier abgedruckte Gespräch ist eine für „von hundert“ gekürzte Wiedergabe eines Gesprächs mit Ulrike Steglich von der Berliner Stadtzeitung „scheinschlag“ und Stephan Genee von A.N.Y.P. Es fand am 9. November 2017 an der Weißensee Kunsthochschule Berlin in der von Oktober 2017 bis Februar 2018 dauernden Seminar- und Gesprächsreihe „Never Mind the Nineties. Ausgrabungen aus dem Kunststandort Berlin der 1990er Jahre“ statt. Anhand von Medien, die in den 90er Jahren präsent waren und es heute in dieser Weise nicht mehr sind, wurden von Knut Ebeling, Heimo Lattner und Annette Maechtel Protagonist*innen eingeladen, dieses „Jüngstvergangene“ (Walter Benjamin) durch gemeinsame Gespräche an einem runden Tisch in der Professorenmensa medienarchäologisch zu befragen. Die Gespräche fanden im Rahmen des von der Einstein Stiftung geförderten Forschungsvorhabens „Autonomie und Funktionalisierung“ statt.
Die heute nicht mehr erscheinenden Zeitungen „scheinschlag“ und A.N.Y.P. sind beide in den 90er Jahren im Berliner Kontext entstanden, richteten sich aber an ganz verschiedene Zielgruppen und verfolgten unterschiedliche Gestaltungskonzepte und Textpolitiken. Aus heutiger Perspektive scheint es interessant zu analysieren, was diese medienarchäologischen Artefakte über mediale Praktiken der 90er, das Autonomieverständnis des Berlins dieser Zeit sowie die damaligen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen aussagen.
Ulrike Steglich /Die Nullnummer erschien im November 1990. Die Initiatoren waren Willi Ebentreich und Ingo Meyer. Einer kam aus dem Osten, war gerade 18, und der aus dem Westen, besetzererfahren, kam aus Frankfurt am Main und war schon etwas älter. Ich bin im Januar oder Februar ’91 dazugestoßen und dann waren wir zu dritt.
Wir fingen in der Steinstraße an und deswegen hatten Willi und Ingo die Titelidee „Steinschlag“, weil ja auch die Häuser in den Ostberliner Altbaugebieten in einem ziemlich maroden Zustand waren und tatsächlich die Steine von den Häusern fielen. Kurz bevor die erste Ausgabe herauskommen sollte, wurde die Mainzer Straße geräumt. Und dann haben die beiden beschlossen, dass Steinschlag damit verbrannt ist als Name. Dann ist ihnen irgendwie „scheinschlag“ eingefallen.
Als die Zitty noch ihr Layout klebte, hatten wir den Vorzug, schon mit neuer Technik arbeiten zu können. Wir waren mit dem Grafikbüro Grappa befreundet, das uns bei der Layoutumsetzung geholfen hat. Die saßen gleich um die Ecke in der Rochstraße und hatten QuarkXPress und Photoshop. Und zwar schon ’91. Wenn die abends nach Hause gingen und wir gerade eine Ausgabe fertig hatten, sind wir rüber und haben dort über Nacht das Layout gemacht. Der scheinschlag wurde bis zum Schluss auf QuarkXPress produziert. Was die Frage des Archivs betrifft – wir haben immer brav unsere Pflichtexemplare bei der Deutschen Nationalbibliothek, in der Staatsbibliothek und ich glaube auch in der Stadtbibliothek abgeliefert. Als wir 2007 den scheinschlag aufgelöst haben, weil die finanzielle Basis einfach nicht mehr da war, haben wir noch einmal vier Sätze an andere Archive gegeben. Ansonsten habe ich das komplette Papierarchiv tatsächlich bei mir im Keller. Das sind ungefähr 30 Umzugskisten. Also 17 Jahre pro Monat eine Ausgabe. Ich glaube drei Jahre lang sind wir auch zweiwöchentlich erscheinen.
Wir sind ziemlich mutig mit einer Auflage von 25.000 gestartet. Der Zeitungsdruck war das billigste Medium. Wir haben von Anfang an nicht nur in Mitte, sondern auch in Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, an öffentlichen Orten im gesamten Innenstadtbereich ausgelegt. Von Kaufhallen über Ämter, Cafés, Kneipen bis hin zu Kulturstandorten. Anfangs sind wir immer selbst losgefahren und haben verteilt. Das hat sich später professionalisiert, als wir dann Leute für den Vertrieb auch bezahlen konnten. Aber sonst war die ganze Geschichte weitgehend ehrenamtlich. Interessant war, bis wohin diese Zeitung teilweise ohne unser Zutun vordrang. Wir haben ziemlich schnell gemerkt, dass je politischer und professioneller die Sache wurde – politisch war sie von Anfang an – der scheinschlag auch in Fachkreisen und in der Senatsverwaltung durchaus sehr intensiv gelesen wurde.
Knut Ebeling /Der scheinschlag ist ein wichtiges Medium geworden in den 90ern. Zeitungen haben natürlich eine publizistische Macht. Wie seid ihr damit umgegangen?
Ulrike Steglich /Ende ’96 ploppte in Berlin dieses berüchtigte Planwerk Innenstadt auf. Da ging es darum, insbesondere die östlichen Innenstadtbezirke neu zu beplanen, zu verdichten – aber eher orientiert am barocken Raster. Dieser Plan war monatelang im stillen Kämmerlein vom damaligen Senatsbaudirektor [Hans Stimmann] ausgeheckt worden. Die damalige Baustadträtin von Mitte [Karin Baumert] hat das Ding – kurz bevor es im „Stadtforum“ öffentlich präsentiert werden sollte – auf den Tisch bekommen, mehr oder weniger nur zur Kenntnisnahme. Sie hat einen Kollegen von der taz und mich in ein Café gebeten und diesen Plan ausgerollt und gesagt: „So guckt Euch das mal an.“ Im Tagesspiegel, in der Berliner Zeitung und der ZEIT war die Veröffentlichung, natürlich im Sinne der Senatsverwaltung, schon geplant – für den Tag vor dem Stadtforum. Wir kamen der Sache dann zuvor. So konnten wir von diesem Planwerk Innenstadt berichten, damit überhaupt erstmal eine breite Öffentlichkeit davon erfuhr. Es gab dann heftigen Gegenwind, weil viele dieses Planwerk kritisierten und auch seine Entstehung im stillen Kämmerlein, was dem neu erwachten, demokratischen Verständnis im Berlin der 90erJahre nicht so wirklich entsprach. Da haben wir schon gemerkt, dass das eine ziemliche Schlagkraft hatte, dass wir den Plan vorher veröffentlicht hatten. Und gleich darauf haben wir mit der taz zusammen eine Beilage produziert, die hieß dann „Stadt Plan Mitte“. Da merkt man dann schon, dass das ziemlich Dampf in die ganze Geschichte reinbringt. Aber mit dem Gedanken, Macht zu haben, haben wir uns eigentlich nicht beschäftigt. Wozu ist man da, wenn man so politische Debatten nicht unter die Leute bringen will? Dann braucht man keine 25.000 Exemplare drucken.
Stephan Geene /Es hing ja nicht nur an den besetzten Häusern und der scheinschlag hat sich von vornherein nicht nur an die radikal Linke, [Ulrike Steglich /Nein, garnicht!], sondern an ein ganz bestimmtes und vielleicht auch gerade in der Mitte liegendes Publikum gerichtet. Das war nicht die bürgerliche Öffentlichkeit, sondern irgendwas dazwischen.
Ulrike Steglich /Wir saßen in Mitte in einem Gebiet, wo sich plötzlich ganz viel vernetzte. Auch über diese Runde-Tisch-Kultur. Das war eine ziemlich interessante Mischung aus Leuten, die teilweise neu in der Verwaltung und der Politik waren und teilweise eben aus der Bürgerbewegung heraus einen gewissen Anspruch hatten. Aber auch Kunst- und Kulturleute, die nach Berlin kamen oder dort ihre Räume fanden. Besetzte Häuser waren nur ein Teil von diesem ganzen Konglomerat. Wir saßen in diesem Altbauviertel und es war ganz klar, dass hier etwas passieren wird. Die Investoren standen ja auch alle schon in den Startlöchern. Der Instandsetzungsbedarf der Häuser war nicht zu übersehen. Also die Frage war: Was passiert mit der Ostberliner Innenstadt? Deswegen hat sich das aus dem Kiez heraus entwickelt. Erstmal war das eben nur dieses spezielle Viertel der Spandauer Vorstadt – eben Mitte. Irgendwann haben wir die Zeitung dann umbenannt in „Zeitung für die Berliner Innenstadt“, weil wir uns inzwischen auch viel stärker mit der Gesamtstadt und den politischen Entwicklungen, den Stadtentwicklungs- und kulturellen Debatten beschäftigten. Der Kern war immer, möglichst viele Leute zu erreichen, nicht nur Fachpublikum und nicht nur Leute, die einschlägig in bestimmten Szenen unterwegs waren, sondern die ganz normalen Leute, die da wohnten. Deswegen haben wir den scheinschlag auch in Kaufhallen ausgelegt, in Wartezimmern oder im Rathaus.
Knut Ebeling /Ihr habt von Anfang an ein bestimmtes historisches Bewusstsein gehabt, wenn ihr sehr auf eure Selbstarchivierung geachtet und die Zeitung in die Bibliotheken gebracht habt. Damit ist ja von vornherein schon ein Gedanke der Überlieferung angelegt.
Ulrike Steglich /Es gibt ja die Deutsche Nationalbibliothek und bestimmte Archive, die dich sofort, wenn du irgendein Printmedium an den Start bringst, darauf aufmerksam machen, dass du deine Pflichtexemplare abzuliefern hast. Sonst wären wir wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, die zu beschicken. Ich weiß nicht, ob das viel mit historischem Bewusstsein zu tun hatte. Aber vielleicht hat es auch einfach was mit dem Wert von Arbeit zu tun. Ab ’97 wurde das auch online gestellt. Letzten Endes ist das verlässlichste Archiv aber das Papier.
Heimo Lattner/ Wie wurden beim scheinschlag redaktionelle Entscheidungen getroffen?
Ulrike Steglich /Es gab immer so vier, fünf, sechs Leute, die die Konstanten waren und dann auch die meiste Arbeit machten. Es gab ein Mal im Monat eine öffentliche Redaktionssitzung und ansonsten jeden Dienstag um 18 Uhr die obligatorische Arbeitsredaktionsrunde. Es konnte auch passieren, dass da 20 Leute im Kreis saßen.
Judith Siegmund /Die künstlerischen Gruppen haben viel Wert auf ihre Selbstorganisation gelegt. Selbstorganisation war das Stichwort dafür, sich politisch zu verstehen. Wie hoch habt ihr das in eurem Selbstverständnis gehängt?
Ulrike Steglich /Wir haben uns immer als ein Projekt gesehen. Nicht als Kunst, sondern als Teil einer sehr vielfältigen Berliner Projektlandschaft, wo eigentlich alles mit vertreten war.
Knut Ebeling /Ich habe die A.N.Y.P. als Projekt immer als sehr glamourös empfunden .
Stephan Geene /Na ja, Anti-New-York-Pläne ist wahnsinnig Großsprech. Wir gehen nach Berlin statt nach New York! Und dann hieß die Zeitung abgekürzt eben A.N.Y.P. 1989 haben wir die Zeitung das erste Mal im Rahmen einer Ausstellung im Kunstverein München [26.4.–30.4.1989] gemacht. A.N.Y.P. war auch eine Westberliner Story, die sich ganz stark abgegrenzt hat gegen die 80er-Jahre-Malerfürsten an der HdK. Es haben dann auch sehr schnell die Leute im [Künstlerhaus] Bethanien und viele andere in der Redaktion mitgemacht. In der Nachschau hat das eine extreme Dynamik gehabt.
Lia Rutenberg: Hat sich die Redaktion verändert?
Stephan Geene /Total, sie war jedes mal anders. Eigentlich konnte jeder mitmachen. Es war informell. Aber Alice [Creischer], Nicolas [Siepen], Juliane [Rebentisch] waren länger dabei. Jochen Becker und Renate Lorenz. Natürlich wir, minimal club, immer selber. Wobei Sabeth Buchmann und ich stärker diesen Weg gegangen sind als Mano [Wittmann] und Elfe [Brandenburger].
Samir Bani / Wie lange hat das denn gehalten?
Stephan Geene /Wir haben keine zehn Ausgaben gemacht, sondern nur neun.
Annette Maechtel /Unter welchen Bedingungen habt ihr die einzelnen Ausgaben produziert? Ist jedes Jahr zu einem bestimmten Zeitpunkt eine erschienen oder wann kam die jeweilige Ausgabe heraus? Die einzige Ausgabe, die es von A.N.Y.P. noch zu kaufen gibt, ist in der Shedhalle in Zürich produziert worden. Welche Rolle spielten die Kunstinstitutionen?
Stephan Geene /Das war unterschiedlich. Es gab institutionell keinen großen Widerhall. Dass Renate Lorenz bei der Shedhalle die gemacht hat oder Helmut Draxler im Kunstverein München, ist eigentlich die Ausnahme.
Heimo Lattner/ Im Untertitel: „Eine Zeitung für zehn Jahre“ steckt ja schon eine Mystifizierung drin. Wie kommt man auf die Idee, eine Zeitung zu starten und zu sagen: Ich weiß genau, ich mache die zehn Jahre. Also ich höre nicht eher auf, aber ich mach auch nicht weiter. Stephan Geene /Ich habe keine Ahnung, wie wir da drauf gekommen sind. Finde ich auch erstaunlich.
Heimo Lattner/ Ist aber ein interessanter Untertitel, weil er sich komplett verweigert. Es steht da nicht drunter: Ein Meinungsmedium, oder Magazin zur ästhetischen Bildung oder sonst irgendetwas. Er sagt ja eigentlich gar nichts.
Stephan Geene /Wir wollten A.N.Y.P. nicht verorten. Die Zeitung ist heute ein sehr interessanter Teil von dem, was ich mitgemacht habe. Es gibt wenige Sachen, mit denen ich so gut sehen kann, was sich in jedem Jahr veränderte. Wer mitgemacht hat, welche Themen. Diese Art von Entstehung war nicht vorherzusehen und das hat die Zeitung, sozusagen für uns, immer wieder eingelöst. Also zum Beispiel Gender, Judith Butler, wie das aufkommt und wie sich das dann immer weiter entwickelt. Das war aber auch nicht Berlin primär, sondern dazu gehörten ja dann auch andere Städte wie Köln.
Judith Siegmund /Die Frage würde ich jetzt an euch beide stellen: Hattet ihr eine westdeutsche Perspektive? Oder seid ihr ein Sprachrohr des Ostens gewesen?
Ulrike Steglich /Wir waren keine feste Truppe, von Anfang an nicht. Es war total bunt gemischt, Leute die nach Berlin gezogen waren, wie auch Berliner selbst, aus dem Osten, aus dem Westen.
Judith Siegmund /Und warum war die A.N.Y.P. homogener?
Stephan Geene /Interessante Frage. Grundsätzlich geht es um Leute, die unter ähnlichen Bedingungen, ähnlichen Wünschen, vielleicht schon vor dem Mauerfall, angefangen haben sich in bestimmte Richtungen zu bewegen. Überhaupt hat natürlich der Mauerfall zu der Politisierung beigetragen, weil plötzlich eine kleinteiligere Art von Gefahr oder von Politik möglich erschien. Es waren eher alle überrascht, was jetzt ist, und das hat niemand so stark zum Thema gemacht. Aber es gab trotzdem auch verschiedene Leute, die eine Ost-Geschichte hatten. Peter Wagenknecht, also er hieß ja immer Nancy, weil er sich so als Trans erklären konnte, hat sehr viel in der Zeitung gemacht. Das war jetzt weder Quote oder besonders wichtig, dass das so war. Er hat aber noch eine andere Geschichte erzählt. Trotzdem war dann seine schwule Perspektive eigentlich entscheidender als die Frage, ob er aus dem Osten kam. Aber man kann den Westblick kritisieren.
Gabriele Kahnert / Ihr wart einfach die Hardcore-Intellektuellen. Das war so ein bestimmter, ich will jetzt nicht sagen „Club“, aber so eine bestimmte Art zu denken und eine bestimmte Gruppe, die daran arbeitete. Es gab auch die Nicolais oder Else Gabriel, die haben auch anders gearbeitet oder anders gedacht. Oder die Tödliche Doris und die Zwingergalerie-Clique. Es gab ja unwahrscheinlich viele Gruppen in Berlin, die alle nicht unbedingt viel miteinander zu tun hatten.
Stephan Geene /Ja, ich glaube, dass es da durchaus problematische Punkte gab. Das sind Politisierungen, aber es sind oft auch Ausgrenzungen. Und die waren problematisch für unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen Gründen. Überhaupt war diese sogenannte Repolitisierung nicht von allen unkritisch gesehen. Als die Mauer fiel ’89, war ich zufällig in New York und habe mich da oft mit Heidi Paris und Peter Gente vom Merve Verlag getroffen. Die sind fast durchgedreht. Die sagten: „Das ist ja furchtbar! Das was jetzt kommt, das rückt Berlin 1000 km nach Moskau. Und die ganzen marxistischen Diskurse kommen zurück.“ Die haben das gehasst, weil sie diese Art von Postmarxismus schrecklich fanden. Antonio Negri zum Beispiel. Den hatten sie früher ja veröffentlicht – hätten die nie mehr gemacht. Für Leute, die eine DDR-Geschichte haben, war das auch nochmal ganz anders. Die hatten eigentlich auch überhaupt keinen Bock, was mit Marxismus zu tun zu haben. Nicht, dass wir immer Marx dran geschrieben haben. Haben wir nicht. Mal ganz abgesehen von ästhetischen Fragen, wie Material und Körper. Welche Rolle hat das nach den 80er Jahren gespielt? Im Westen waren die 80er Jahre – Performationserfahrung sozusagen – andere als im Osten. Da sind sich Dinge nur langsam ästhetisch und politisch diskursiv näher gekommen.
Judith Siegmund /Ich frage mich, warum die politische Szene von Anfang an so durchdrungen war von dieser Offenheit: jeder kann mitmachen. Das scheint mir im Moment für die Kunst nicht so zu sein. Das ist auch eine harte These.
Ulrike Steglich /Wir hatten von Anfang an bestimmte Themen gesetzt, die sehr viele Leute betrafen. Die Leserschaft war sehr heterogen und wichtig war immer, dass man da sehr niederschwellig rein geht. Die Leute, die da arbeiteten, hatten ganz verschiedene Hintergründe und so war auch das Spektrum der Texte total unterschiedlich. Diese Mischung hat es eigentlich ausgemacht. Klar war immer: Das erste Buch ist halt Politik und Stadtentwicklung. Das zweite Buch ist dann eher Kultur. Und da Kultur für uns ein Riesenbegriff war, wo man ganz viel drunter verstehen kann, von Alltagskultur bis Kunst eben, war das ja auch eine sehr bunte Mischung.
Annette Maechtel /Würdest du denn sagen, A.N.Y.P. ist Journalismus?
Stephan Geene /Was ist Journalismus? Ich würde sagen, es gibt viele Artikel im scheinschlag, die auch bei uns hätten erscheinen können oder umgekehrt. Bei uns haben auch viele Leute geschrieben, die gar nicht aus dem Kunstbereich waren. Gerade so Stadtentwicklungssachen haben ja auch immer eine größere Rolle gespielt. Aber es war nicht so niedrigschwellig und auch nicht so gestreut, sondern richtete sich an die, die auch da drin schreiben könnten. Es ging darum, eine Gemeinschaft zu bilden.
Annette Maechtel /Ich will die Frage weiter zuspitzen – habt ihr Euch als A.N.Y.P. denn als Kunstprojekt verstanden? In welchem Verhältnis habt ihr Euch zu politischen Gruppen gesehen?
Stephan Geene /Das war für mich auch eine bestimmte Erfahrung von Ent-Dogmatisierung in Berlin, im Kontext von besetzten Häusern. Kunstprojekte wurden nicht automatisch schief angeguckt, weil sie nicht funktionalistisch, straight genug waren. Die ganzen Kunstprojekte wollten ja so, wie ihr mit dem scheinschlag, Stadtpolitik machen. Es gab dieses Gefühl, wir können das hier gestalten, mitgestalten. Was sich dann nicht so ganz erwiesen hat. Da wird eben auch die Frage „Autonomie oder Funktionalisierung?“ interessant. Funktionalisierung wird plötzlich möglich. Man kann Räume erschließen, aber wo geht man dann eigentlich hin? Man kann dann da hingehen, wo man überhaupt keine Kunst mehr macht. Ist auch gut. Dann macht man eben was anderes. Oder man macht Sachen, die auch im Sozialen wirken. Oder wir organisieren uns selbst sozial als selbstverwaltete Räume. Das kann ja selber eine Art Fetisch-Charakter einnehmen: „Super, wir sind ja selbstverwaltet. Großartig!“ Das ist dann aber wieder autonom, indem ich nämlich diesen autonomen Kunstzustand halte. Der genügt sich selbst, weil er nun ja doch Kunst ist, oder zumindest auch Kunst.
Nee. Wir haben das nicht als Kunst betrachtet. Wir haben ja auch eher den Kunstbegriff kritisiert. Zum Beispiel haben wir mit den politischen Gruppen „Kritische Aids Diskussionen“ oder auch mit „Kein Patent auf Leben“ zusammengearbeitet. Die waren absolut ein Teil von A.N.Y.P., ohne, dass das Ganze als Kunst gerahmt wurde. Wenn dann muss es schon ein sehr selbstkritischer Begriff von Kunst sein. Wenn ich einen Text über Gender schreibe, was ist es dann? Ist es dann eine Selbstbeschreibung? Sind es politische Forderungen? Das kann man schwer trennen.
Stefan Römer /Vielleicht ist ein Aspekt der Frage auch, dass es in den 80er Jahren bis in die 90er Jahre hinein so eine Fanzine-Kultur gab. In der Kunst, auch in der Musik oder im Film gab es Leute, die auf eigene Kosten kleine Fanzine-Magazine herausgegeben haben. Und von daher war es ziemlich eindeutig, dass A.N.Y.P. aus dem Kunstfeld kommt. Aber als User ging es einfach darum, was man rauszieht. Und da war nun mal endlich etwas aus dem Kunstzusammenhang, wo Leute es gewagt haben, was über Theorie zu sagen. Über Postmoderne. Über Poststrukturalismus. Was in anderen – also im Kunstforum zum Beispiel – einfach nicht behandelt wurde. Von daher glaube ich, dass es wirklich eine gewisse Fanzine-Kultur war. So habe ich das damals rezipiert.
Stephan Geene /Was eine Rolle spielt, ist auch, dass die Themen immer sehr an den Leuten selber dran waren. Insofern ist es nicht journalistisch. Es war weniger, dass man sagt: Ich muss jetzt mal drüber schreiben. Was passiert denn irgendwo in einem Bereich, das muss man mal beackern aus einer kritischen Distanz. Gender ist deshalb ja auch so ein interessantes Thema, weil es dich selbst betrifft. Also machst du darin eigentlich Selbstaussagen oder was du dir wünschst, von dir selber oder von deinem sozialen Umfeld. Und eigentlich ist das ganze Projekt ja auch der Wunsch, andere Verkehrsregeln einzuführen. Man kann Räume schaffen, die gleicher sind und anders sind als da, wo man irgendeinen Direktor um Erlaubnis für irgendwas fragen muss. Es ist deshalb auch ein identitätspolitisches Projekt. Na gut, das seid ihr mit dem scheinschlag auch, aber mit einem größeren Abstand.
Ulrike Steglich /Ich habe auch gerade noch mal über die Frage nach dem politischen Selbstverständnis nachgedacht. Die Hauptsache war, dass es eine unabhängige Zeitung ist, die quasi von unten kommt, wo keiner darüber sitzt. Wir waren ja zu Anfang alle Quereinsteiger. Keiner von uns hatte Journalismus studiert. Das war learning by doing. Die Professionalisierung kam ja so peu à peu. Und das Interessante war, es gab bestimmte Leute, die wären einfach von sich aus nie bei uns aufgeschlagen. Weil das eben nicht in ihr Weltbild passte. Ein Rechter hätte sich nie zu uns verirrt. Wir waren immer ganz gut geerdet. Es gab natürlich jede Menge Konflikte. Basisdemokratie, alles klar. Aber das war auf eine anstrengende Art und Weise immer so ein Selbstregulativ. Es musste niemand den Chef raushängen lassen, auch wenn sich zum Schluss immer herauskristallisierte, dass die Arbeit auch bestimmte konstante Figuren braucht, die die Fäden zusammenhalten. Diese Fluktuation war natürlich einerseits enorm anstrengend, weil ja ständig neue Leute in die Strukturen einsteigen mussten. Andererseits hat das aber auch das Ganze immer in Bewegung, in einer Entwicklung gehalten. Ich selbst bin dann zum Beispiel auch ’98 für eine Weile rausgegangen und habe dann auch nur noch die Sanierungszeitung gemacht.
Stephan Geene /Dieser Anteil von Zivilgesellschaftlichem, Selbstorganisiertem wird wieder wichtiger – siehe aktuell Trump. In dieser Opposition bekommt das natürlich wieder eine neue Rolle.
Aber wie hat überhaupt diese Enteignung stattgefunden? Also von diesem: Man kann das selber machen. Alle schienen da befähigt. Aber wo ist das geblieben, vielleicht ist Wikipedia das letzte große Beispiel hier? Was hat diesen Aneignungsdrive gestoppt, wie ist das eigentlich passiert? Wie kommt es, dass an dessen Stelle in der Kunst plötzlich richtig viel Geld zu machen war und ist? Da ist irgendwas schief gegangen, aus meiner Perspektive. Es ist etwas nicht eingelöst worden, und da gibt es tatsächlich noch Potenziale, das doch noch später einzulösen oder daran zu arbeiten. Ich interessiere mich aber auch dafür, zu verstehen, was das eigentlich war.
Redaktionelle Bearbeitung:
Annette Maechtel und Heimo Lattner
Weitere Infos: https://www.udk-berlin.de/universitaet/fakultaet-gestaltung/institute/institut-fuer-geschichte-und-theorie-der-gestaltung/forschung-am-igtg/autonomie-und-funktionalisierung/
Stephan Geene und Ulrike Steglich beim Gespräch am 9. 11. 2017, Foto: Heimo Lattner