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Raimund Kummer
Hamburger Bahnhof
2017:September //
Anne Marie Freybourg
Raimund Kummer / 2017:September
Doppelte Schleifen
Berlin kenne ich seit der Zeit des Tunix-Kongresses (Januar 1978). Damals sah ich auf einer ziemlich verwahrlosten Abrissbaustelle mehrere rot angestrichene T-Träger. Es wäre nicht ehrlich, im Nachhinein zu sagen, ich hätte das, was ich sah, gleich als Kunst erkannt. Erst als ich von New York nach Berlin gezogen war und das „Büro Berlin“, seine Künstler Fritz Rahmann, Hermann Pitz und Raimund Kummer kennenlernte, verstand ich, dass ich damals eine Arbeit von Raimund Kummer gesehen hatte.
Eine überraschende, neue Art des Verstehens, nachträglich ein Alltagserlebnis als Kunsterlebnis zu begreifen. Heute frage ich mich, geht das überhaupt, rückwirkend ein Erlebnis umzudefinieren? Ja, ich kann, wie im Traum auch, Erlebtes nachträglich neu deuten. Diese Verschiebung im Verstehen, zufällig auf einer Baustelle liegende Stahlträger gesehen zu haben und dies im Nachhinein als Kunst zu deuten, wird dann Teil der Kunst selbst.
Dem Künstler ging es dabei nicht allein um den Gegenstand. Das Entscheidende war die Handlung, im Tumult der Baustelle einen bisher unbemerkten Gegenstand zu markieren. Eine lapidare, doch entschiedene Handlung des Hervorhebens, die hier zum Kunstwerk erklärt wurde. Pure Konzeptkunst also. Und auch nicht. Denn Kummers damalige Aktion war ganz vom Skulpturalen her gedacht und höchst anschaulich. Der T-Träger wurde zur schönen und würdigen Skulptur erklärt und durch die Markierung auf einen imaginären Sockel gehoben.
Minimal-Art-Künstler wie Carl Andre oder Donald Judd, hatten schon 10 Jahre früher alltägliche Baumaterialien benutzt. Industriestahlplatten oder Ytong-Steine, in repetitive und serielle Anordnungen gebracht, hatten sie zur Skulptur erklärt. Und sie haben ihre Arbeiten nicht mehr im Museum, sondern in Fabrikhallen ausgestellt, im Kontext zum Material.
Man muss sich diesen Ansatz einer nüchternen, fast strikten Skulpturauffassung noch einmal vergegenwärtigen, um die Tragweite der von den Künstlern des „Büro Berlin“ vorangetriebenen Schritte zu begreifen. Die drei haben eine Radikalisierung des schon in den späten 1960er-Jahren begonnenen, neuen skulpturalen Denkens betrieben, die Künstlern vielleicht nur in einer Stadt wie dem damaligen Berlin einfallen konnte.
Damals boomte die Bildhauerei auch in anderen deutschen Städten, wie Köln und Düsseldorf. Aber mit einem ganz anderen Gestus. Dort waren es meist spielerische Material-Collagen, montiert aus gefundenen oder abgeformten Alltagsgegenständen. 1987/88 titelte dazu eine Ausstellung treffend: „Die große Oper oder die Sehnsucht nach dem Erhabenen“.
Die Ausstellung „Sublunare Einmischung“ im Hamburger Bahnhof entwirft eine interessante Übersicht über die Arbeitsweise von Raimund Kummer. Der Künstler hat sie gemeinsam mit dem Kurator Eugen Blume und der Ko-Kuratorin Ingrid Buschmann entwickelt. Sie ist zu Teilen ein geschichtlicher Rückblick. Und doch auch nicht. Den Mittelpunkt der Ausstellung bildet die Arbeit „On Sculpture 1979–2017“. Es ist eine archivalische Aufbereitung der Kummerschen Produktion. 6.660 Kartons sind fünfzehnfach übereinandergestapelt und wie ein Piedestal, wie eine niedrige Mauer durchziehen sie fast den gesamten Hauptausstellungsbereich.
Die oben aufliegenden Kartons sind geöffnet. In ihnen liegt jeweils ein Foto. 444 sind es. Sie zeigen Orte, Situationen, Aktionen und einige Werke, dokumentieren Eingriffe, die Kummer in Alltagsituationen, im Atelier, im öffentlichen oder musealen Raum vorgenommen oder erfunden hat. Dieses Archiv ist eine Retrospektive und gleichzeitig eine verblüffende Inszenierung. Ein witziger Kommentar und eine gekonnte Brechung der berühmten Sockelfrage, die jeder Bildhauer beantworten muss. Angesichts der Menge an Kartonagen fragt man sich auch, wie umfangreich das Werk von Kummer ist. Wissen wir überhaupt, ob in allen Archivboxen Werkdokumentationen verwahrt sind?
Diese Arbeit steht in der Ausstellung zentral und ist auch für das Verständnis des Kummerschen Werkes zentral. Das inszenierte Archiv ist dokumentarisch und authentisch, ironisch und gebrochen zugleich. Eine typische „methodische Volte“, die ganz dem in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre geprägten Produktionsbegriff des „Büro Berlin“ entspricht. Die skulpturalen Interventionen, wie sie diese Künstler damals erarbeiteten, waren meist flüchtig, zeitlich begrenzt und manchmal sogar unbemerkt. Sie erhielten ihre Verstetigung allein durch das Medium Fotografie.
Auch den Auftakt der Ausstellung bildet eine Rückschau. „Skulpturen in der Straße, 1978–79“ ist eine 80-teilige Diaschau, die die damals entstandenen, frühen Situationen zeigen, welche Kummer im Stadtraum auffand und mit der Fotokamera dokumentierte. Diese Arbeit ist in der Vorhalle des Ausstellungsraumes so aufgestellt, dass man sie durchqueren muss. Dabei gerät man als Projektionsschatten mitten hinein in die Straßenszenen.
Es ist ein bisschen so, wie man auch damals ungewollt in die Situation geriet und zufällig zum Kunstbetrachter wurde. Im Unterschied zu vielen heutigen partizipativen Arbeiten, die einen als Betrachter in eine Situation eher hineinzwingen, war Kummers künstlerische Haltung, ein offenes Angebot zu machen. Wer das Kunstwerk bemerken wollte, konnte es als Kunstwerk oder auch nur als Merkwürdigkeit im Stadtraum betrachten.
Kummer bezeichnet sein Vorgehen als „Interventionen“. Es sind einfache Eingriffe und komplexe Einmischungen, die Setzung einer künstlerischen Handlung in einen kunstfremden Kontext. Was dabei passiert, lässt sich durch Ergebnisse handlungstheoretischer Forschung präzise beschreiben. Es wird ein Veränderungsprozess ausgelöst, der nicht mechanisch, linear als „single loop“ zwischen Auslöser und Wirkung verläuft, sondern einen „double loop“ bildet, eine doppelte Schleife für ein neues Verständnis. Bezeichnet wird damit eine komplexe, Veränderungen im Verstehen hervorrufende, Wechselwirkung während innovativer Handlungen, die amerikanische Verhaltensforscher entdeckten.
Für die Kunst war dieses Verständnis des Handelns und seiner Rückwirkung auf die jeweilige Handlung selbst damals absolut neu und ungewöhnlich. Was „Büro Berlin“ da machte, war wie eine Verrückung, eine Verzahnung von künstlerischer Handlung, Situation, Werkbegriff und Reflexion. Ein überraschender Anstoß, den sie damals weder theoretisch inspiriert, noch konzeptuell gemeint, sondern eher intuitiv, aus dem Lebensgefühl der Stadt heraus, in das Verständnis von Skulptur hineingaben.
Dieser Input konnte jedoch natürlich nicht ewig überraschen. Ab 1990 begann Kummer sich vor allem mit der medialen Erweiterung des Skulpturbegriffs zu beschäftigen. Via der fotografischen Dokumentation der bisherigen Eingriffe und Einmischungen verschob sich sein Interesse von der Handlung auf den Prozess des Sehens. Wie Kummer den Prozess des Sehens skulptural fasst, wird in den beiden großen Arbeiten „Mehr Licht“ (1991) und „nóstos álgos“ (2012) unmittelbar anschaulich.
Das Sehen fasst Kummer sehr konkret. Es ist für ihn immer ein Bemerken und ein intensiver, fast plastischer Prozess. Das rein visuelle Verständnis von Sehen wird um das haptische Moment ergänzt. Es geht um Bemerken, Abtasten und Sichten, Eingreifen, Hervorheben und Herausheben. Was in dieser Werkschau zwar nicht unmittelbar sichtbar, doch aus der komplexen Zusammenstellung der Arbeiten ablesbar ist und verständlich wird, ist der methodische Zugriff, der der künstlerischen Praxis von Kummer zu Grunde liegt. Er ist zugleich konkret, archivalisch, sinnlich, anschaulich und in sich reflexiv.
Den Abschluss der Ausstellung bildet „unterwegs – out and about“ (2017), eine Folge von 17 Filmen, die Dokumentation einer Reise, die Raimund Kummer gemeinsam mit dem Kurator Eugen Blume zu Orten und Ausstellungsplätzen unternommen hat, die dem Künstler in seiner Werkentwicklung wichtig waren. Eine retrospektive Reise, aber ohne Melancholie. Stattdessen vermitteln diese Filme die Kraft des Künstlers, sich für Orte und ganz einfach für den realen Raum zu begeistern. Den Raum mit dem Zugriff des Bildhauers wortwörtlich zu begreifen, in ihn einzugreifen, ihn nach völlig neuen Kategorien zu ordnen und damit aufzumischen. Das alles wird in dieser Wiederbegegnung vor Ort spürbar.
Raimund Kummer war überrascht, dass diese Filme, anfangs nur als zusätzliches Material zur Ausstellung gedacht, von den Besuchern sehr gut aufgenommen wurden. Das kann daran liegen, dass diese „Beigaben“ sich quasi unter der Hand zu einem eigenen Werk formieren. Dieses Film-Konvolut ist vielschichtig und überraschend. Auch hier kommt ein „double loop“ zum Tragen. Zwei unterschiedliche Zeitschichten, zwischen retrospektiver Reise und aktueller Dokumentation, verknüpfen sich mit dem Nachdenken über die eigene künstlerische Entwicklung zu einem sehr anschaulichen Metatext der Reflexion künstlerischen Tuns. In dieser Arbeit wird erneut eine radikale und genaue künstlerische Haltung deutlich, die man heute in Zeiten sozialpädagogisch gut gemeinter und political correct zensurierter Kunstformen dringend wieder sucht.
Raimund Kummer „Sublunare Einmischung“,
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin,
Invalidenstraße 50–51, 10557 Berlin, 27.4.–29.10.2017