„Kopf…schmerzen. Kopf…schmerzen“ tönt eine elektronisch verzerrte Maschinenstimme aus der Kühlbox, die Frau Professor Peiffer, gespielt von Susanne Sachsse, durch Hamburg trägt. In der Kiste befindet sich das Gehirn von Ulrike Meinhof. Gleich wird sie auf auf einem Kongress zum Thema „Die Untoten“ über ihre Gehirntransplanatationsforschung sprechen und eine Person casten, der dieses Gehirn einoperiert werden soll. Bruce LaBruces Kurzfilm „Ulrikes Brain“ hatte letzen Samstag auf der Berlinale Premiere. Historisch nachgewiesen ist, dass das Gehirn tatsächlich nach Meinhofs Suizid („piep – der Ermordung“, korrigiert im Film immer wieder ein Voice-over) ihrem Leichnahm entnommen und vom Neuropathologen Dr. Jürgen Peiffer wissenschaftlich verwertet wurde. Zwei Jahrzente konservierte man es in einem Tübinger Archivkeller, bis es verschwand und an der Magdeburger Uniklinik wieder auftauchte. Erst 26 Jahre nach ihrem Tod („piep – Ermordung“) wurde es eingeäschert und bestattet. In „Ulrike’s Brain“ verbindet Bruce LaBruces Exploitationfilm, Lecture Performance, Splatter und Dokufiction zu einer gruselig-hysterischen Satire. Eine Gruppe schwuler Rechtsradikaler hat die Urne des 1991 an Aids verstorbenen Neonazis Michael Kühnen entwendet und wird ihn und sein Geschlechtsteil in einem okkulten Ritual aus der eigenen Asche wieder zum Leben erwecken. Während Peiffers Gehirntransplantation stürmen die Neonazis den Operationssaal, der Zombie Kühnen hat mit dem Meinhof-Klon Sex auf dem Operationstisch, die Wissenschaftlerin wird erschossen, überall spritzt Blut, es endet böse. Die campy Achtziger-Jahre-Ästhetik des Films wirkt auf der Berlinale 2017 komplett aus der Zeit gefallen, nimmt jedoch Verbindung auf zu aktuellen Debatten über Posthumanismus, Kryonik, Xenotransplantation, Genom Editing und das Wiederauferstehen rechtradikaler Bewegungen. Die Sargdeckel öffnen sich langsam wieder für die Untoten aus der Vergangenheit. „We’ve really gotten to a point of absurdity now in the world, in politics“ sagt Bruce LaBruce in einem Video-Interview für den Teddy Award. „To put it as a B movie automatically gives it some humour. But it really is a B movie, I don’t even have to push it into the B movie genre – life is a B movie right now. Also you just have to keep your sense of humour, sometimes it’s the only thing you have left when you’re fighting these absurd forces, reactionary forces. You have to laugh.“
Ulrike Meinhof spukt auch in Gerhard Richters Werk herum. 1988 malte er den Zyklus „18. Oktober 1977“ über den Tod der Baader-Meinhof-Gruppe in der Justizvollzugsanstalt Stammheim. Darunter befinden sich auch „Jugendbildnis“, ein nach fotografischer Vorlage gemaltes Portrait Meinhofs, und „Tote“, drei Seitenansichten ihres Kopfes mit Erhängungsmalen am Hals kurz nach ihrem Selbstmord (hier funkt jetzt kein ironisches Voice-over mehr dazwischen). Die für Richter charakteristische schwarzweiß verwischte Maltechnik lässt diese renommierten Bilder romantisch und nüchtern zugleich wirken. Es war eine der ersten Auseinanersetzungen eines etablierten bildenen Künstlers, mit dem RAF-Terrorismus. Bereits zu Beginn seiner Karriere hatte sich Richter mit politischen Themen beschäftigt. 1965 malte er ein Portrait seiner Tante Marianne im Jugendalter, die ihn selbst als Baby auf dem Schoß hält. Aufgrund einer vermeintlichen psychischen Krankheit war sie in der Psychiatrie zwangssterilisiert und 1945 ermordet worden. Richter war damals der erste Maler, der Euthanasie in der NS-Geschichte thematisierte. Ein Journalist hat vor einigen Jahren seine tragische Familiengeschichte aufgearbeitet: Prof. Heinrich Eufinger, der Vater von Gerhard Richters erster Frau Marianne, hatte in Dresden als Gynäkologe und SS-Obersturmbannführer Zwangssterilisationen an kranken und behinderten Menschen angeordnet und ausgeführt.
Gerhard Richter wurde der erfolgreichste Superkünstler der Welt und führte über viele Jahre die Capital-Rangliste an. Auf dem Kunstmarkt erzielen seine Werke die höchsten Preise eines lebenden Künstlers, und 2014 betrug sein Marktvolumen 558 Millionen Euro.
Innenminister Thomas de Maizière nahm im Januar sogar eine Reproduktion des Richter-Gemäldes „Betty“ mit zur Tagung des Beamtenbundes in Köln. In dem Bild malte Richter seine Tochter in einer Drehbewegung, bei der sie ihr Gesicht vom Betrachter abwendet, sie trägt eine rotweißgeblümten Flauschjacke. De Maizière hatte es in einer Ausstellung gesehen, bei der es ein Kunsthistoriker als ein Symbol für Deutschlands „obsessive Beschäftigung mit seiner Vergangenheit“ bezeichnet hatte. Der Innenminister wollte die Zuhörer dazu auffordern, den Kopf auch mal nach vorne, in die Zukunft zu richten.
Cut. Nebelschwaden ziehen auf, jetzt kippt die Erzählung ins Trashige, ein Grauschleier legt sich über die Szene. In einem auf Youtube veröffentlichtem Imagefilm für eine Ausstellung Richters im Louisiana Museum of Modern Art spricht der 85-Jährige mit dem dänischen Kurator über „In Art We Find Beauty and Comfort“. Wie blicke er heute, als ein Maler aus Deutschland, für den Geschichte und Gegenwart eine große Rolle spielen, auf dieses Land? Jedes Land habe Probleme mit diesen ungeheuren Umwälzungen, antwortet Richter, die Untertitel übersetzen: „Huge wave of Immigration“. „Zum Beispiel die Parole von der Willkommenskultur, die wir eingeführt haben mit unserem Präsidenten. Die ist so verlogen. Das ist unnatürlich. Wir [sic] sind Flüchtlinge nicht willkommen. Ich habe noch nie was gegen Ausländer gehabt. Aber wenn mir gesagt wird: ‚Du musst jetzt alle willkommen heißen‘, dann ist das gelogen. Ich nehme die nicht zum Essen, sondern nur die ich jetzt kenne. Egal, ob das jetzt ein Neger ist oder ein Däne.“ Gerhard Richter lacht über seine rechtspopulistischen Rhetorikfragmente. Er ist stolz, so frei zu sagen, was er zu denken meint.
Wie konnte die Geschichte so groteske Wendungen nehmen? Warum haben sich so viele, besonders auch unter den Kunstschaffenden, den Versprechungen der Winner zugewandt? Ich frage ein paar Freunde, mir fällt nichts mehr ein, eine Deadline reiht sich an die nächste. Wie kann es mit der Kunst überhaupt weitergehen? „Werte vernichten als performative Handlung“, meint A., „und Abstieg von der gesellschaftlichen Position. Jemand wie Richter könnte zum Beispiel kleine Gemälde für 200 Euro in beliebigen Gruppenausstellungen in unspektakulären Projekträumen verkaufen. Die Daddies, Investoren und Galeristen mal so richtig enttäuschen. Sollte ihn doch nicht jucken, der hat doch ausgesorgt.“ „Super Idee, so ein Strategiewechsel. Selbstauflösung wäre auch toll“, schlägt B. vor, „Das für 3,7 Millionen Dollar versteigerte Tableau beim Sammler einäschern lassen, und dann die die Asche homööpatisch potenzieren und zu Kügelchen verarbeiten. Die heißen dann Gerhardium Iudex C30, die kann man anwenden bei Schwierigkeiten, das Alte loszulassen.“
Bruce LaBruce „Ulrike’s Brain“, 2017, Foto von der Leinwand abfotografiert am 11.02.2017
bei der Premiere in der Akademie der Künste