„Luft anhalten und an Spinoza denken: Was denke ich denn nun eigentlich, wenn ich die Luft anhalte und an Spinoza denke? Ich soll an Spinoza denken und komme vor lauter Denken – und vor allem vor lauter Nachdenken über meine Denken – gar nicht dazu, mich auf das Denken an Spinoza zu konzentrieren.“1
In der Ausstellung „Bei Mutti“ zeigt die Berlinische Galerie neben Erwin Wurms bespielbarem „Narrow House“ (2010), einem auf 1,10 Meter Breite geschrumpften Nachbau seines Elternhauses, zeichnerische Werke, jüngst entstandene Arbeiten des Künstlers sowie seine größte Werkgruppe: die „One Minute Sculptures“.
Als lebendes Artefakt werden die Ausstellungsbesucher dazu aufgerufen, sich Wurms knappen Instruktionen, teils auch in Form von Zeichnungen, zu stellen und sich durch den grotesken Umgang mit Alltagsgegenständen in bestimmte skurrile Positionen zu manövrieren. Die Wurm’sche Szene initiiert die kuriose Benutzung von aus dem Alltag und ihrer ursprünglichen Funktion entkoppelten Gegenständen. Durch den veränderten Kontext der Dinge verschiebt sich auch deren Aufforderungscharakter.2 Jetzt gilt: innehalten, an sich halten, aushalten, mithalten, durchhalten – nicht halten. Ist die Instruktion die Skulptur?
Im Mittelpunkt von Wurms Werkekanon steht wohl die Frage, inswieweit sich das traditionelle Verständnis von Skulptur durch die Dimensionen von Handlung und Zeit erweitern lässt. Wurm konterkariert damit das klassische Konzept der Skulptur als fertiges, statisches Produkt und betont den Akt an sich. Diese Prozessualität lässt performative Zeitskulpturen entstehen, aber der Raum für Reinterpretationen ist penibel abgesteckt. „Wenn ich Anweisungen gebe, dann in relativ strikter Form, und der Betrachter sollte sich auch daran halten. Wenn er die Skulptur nach meinen Anweisungen realisieren will, muss er diese auch so ausführen, wie es dasteht, sonst ist es zwar irgendetwas – aber keine Skulptur von mir.“3 Was ist das, das Irgendetwas? Es besteht die Idee einer Kunst für alle, die großflächigen Zugang ermöglicht und selbst den unkundigsten Teilnehmer (Fach: Theorie und Geschichte der Kunst) zur „living sculpture“4 deklariert. Partizipation als Schnittstelle zwischen Bildender Kunst und darstellendem Tun, zwischen Aufenthalt und Handlung. Entgrenzte Skulptur? Die Idee von Form als definitiver, festgesetzter Größe wankt durch Formierungen und Formauflösungen in Umformungen und Formation.
In der 60-minütigen Videoarbeit „59 positions“ (1992) bedient sich Wurm dem Medium der Kleidung, um diese Idee von Form aufzugreifen und zu verhandeln – wobei im Gegensatz zu den „One Minute Sculptures“ hier das Resultat und nicht der Prozess gezeigt wird. Textilien als flexible, leicht verfügbare und umgängliche Materialien fügen sich in die Reihe wegwerfbarer alltäglicher Gebrauchsgegenstände ein, derer sich Wurm in seiner bildhauerischen Forschung annimmt. Umgedreht, verdreht, eingedreht, ausgedehnt, gelegt, entfaltet – defunktionalisiert. „Viele Leute missverstehen meine Arbeit und glauben, mir geht es um den Körper oder diesen und jenen Gegenstand, aber nein: Es geht mir in erster Linie um die Umstände.“5 Je nach Besucherkonstellation ergeben sich verschiedenen Dynamiken: Anwesenheit und Abwesenheit, Kommen und Gehen, Aktion und Reaktion. Akteure und Schauende begegnen sich im bühnenhaften Kunstraum, im „von Wurm inszenierten Zwischen“6. Es entstehen intersubjektive Zwischenereignisse und partizipatorische Subjekt-Objekt-Verhältnisse – wobei sich die Frage stellt, inwieweit auch eine Objektwerdung der „living sculpture“ stattfindet, indem der Körper für eine Minute Halt macht und zum Objekt der Betrachtung wird. „Was bedeutet es eine Skulptur zu sein?“7, fragt Ursula Ströbele im Ausstellungskatalog. Wir fragen: Was bedeutet es, wenn niemand Skulptur sein will? Damit aus dem Alltagsgegenstand das erdachte Kunstobjekt wird, bedarf es Leute vom Typ „do-it-yourself“-Freiwillige, aber natürlich braucht „nicht jedes publikumsaktivierende Kunstwerk […] zwangsläufig [die physische] Handlung eines Rezipienten, um ,funktionieren‘ und sich als solches konstituieren zu können.“8 Sich selbst ausstellen, sich selbst als Bild präsentieren, die Kunst, Haltung zu bewahren – wenn auch nur im Kopf. Kunst als Erfahrung? Ja/Nein. Bloß als vorläufige Antwort, als Vorlage zur Formulierung der nächsten Frage: Wieviel Wurm braucht die Kunst?
1 Sandra Umathum: „Kunst als Aufführungserfahrung“, [transcript] image, Bielefeld 2011, S. 111
2 Vgl. Vilém Flusser: „Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen“, München 1993, S. 17
3 Zitiert nach: Anne Bitterwolf „Von Fabio zieht sich an bis zu den Drinking Sculptures. Form und Hülle bei Erwin Wurm“, in: „Erwin Wurm. Bei Mutti“, München 2016, S. 14
4 Ursula Ströbele: „Erwin Wurms One Minute Sculptures im Kontext der lebenden Plastik“, in: „Erwin Wurm. Bei Mutti“, München 2016, S. 8
5 Zitiert nach: Sandra Umathum (2011), S. 86
6 Sandra Umathum (2011), S. 100
7 Ursula Ströbele: „Erwin Wurms One Minute Sculptures im Kontext der lebenden Plastik“ in „Erwin Wurm. Bei Mutti“, München 2016, S. 10
8 Sandra Umathum (2011), S. 110