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Beklemmung…
Ein Email-Gespräch
2015:Mai //
Esther Ernst und Luise van Beeck
Beklemmung, Ängstlichkeit,
Panik, Scheu, Todesangst, Furchtsamkeit, Horror,
Bangigkeit, Grausen, Schreck, Sorge, Unruhe, Besorgnis, Befürchtung, Beunruhigung
oder Feigheit, Mutlosigkeit
oder Kleinmut?
Gesendet: 01. Februar 2015 um 10:48 Uhr
Von: Esther Ernst
An: Luise van Beeck
Betreff: Frage
Liebe Luise, hättest Du Lust, mit mir ein Mailgespräch zum Thema „Angst“ zu führen? Das nächste von hundert-Heft beschäftigt sich nämlich damit (eingebunden in die Trilogie Arbeit, Alter, Angst) und ich dachte, das ist was für uns, weil wir uns beide für dieses unbeliebte Grundgefühl mit all seinen Ausstülpungen begeistern können. Für Dich als Psychologin ist sie doch eh omnipräsent und Ausgangslage jeder Zusammenarbeit mit den Patienten (?).
Ich dachte, wir könnten zum Beispiel um die banalen Alltagsängste kreisen, die man erst nicht wahrnimmt, die sich aber einschleichen und einen schlussendlich ziemlich einnehmen können. Was meinst Du?
Gesendet: 03. Februar 2015 um 21:59 Uhr
Von: Luise van Beeck
An: Esther Ernst
Betreff: und Antwort
In meiner ganz und gar kontraphobischen Art lasse ich mich erst mal gern auf dieses e-Mail-Gefecht ein. (Und muss mich natürlich direkt fragen, ob die Wahl des Mediums nicht immer auch schon eine Angst und deren Vermeidung beinhaltet.)
Gesendet: 05. Februar 2015 um 13:51 Uhr
Von: Esther Ernst
An: Luise van Beeck
Betreff: Angst zeigen streng verboten
Nun, ich beginne mit einem Ratschlag meiner Mutter. Die meinte nämlich, dass man einem Hund nie zeigen darf, dass man gegebenenfalls Angst vor ihm hat. Hunde würden Angst sofort wahrnehmen und ausnutzen (also beißen …). Uns Kindern wurde früh beigebracht, dass wir trotz mulmigen Gefühlen selbstbewusst und in überlegener Art auf das Tier zugehen sollen, um unmissverständlich zu signalisieren, dass der Hund sich einem unterzuordnen hat. Das hat auch meistens geklappt (außer bei den eigenen, wir hatten die gestörten Hunde aus dem Tierheim …). Ich denke, dass dieser Ratschlag typisch war für die Erziehung meiner Eltern. Angst wurde eher nihiliert (natürlich auch im Sinne von Trost: Du brauchst Dich nicht fürchten…). Meine Bezugspersonen waren allesamt mehr damit beschäftigt, mir die Angst auszureden oder zu nehmen, als sie geltend zu machen und zuzulassen (im Sinne von: Angst ist ein hilfreiches Gefühl und zeigt einem Gefahr an …). Später als Jugendliche war Angst und Schwäche sowieso total uncool; da wollte ja jeder lieber ein Held sein. Also, was ich sagen will: Angst hab ich zwar ganz oft gespürt, sie hat in meinem Leben aber erschreckenderweise lange Zeit keinen entsprechenden Raum eingenommen. Das empfinde ich rückblickend als eine sehr erstaunliche Diskrepanz. Wie war das bei Dir? War Angst bei Euch zu Hause auch eher ein Tabu oder gar ein lästiges Gefühl? Und ist die Angst heutzutage nicht ein bisschen hipper?
Gesendet: 08. Februar 2015 um 16:09 Uhr
Von: Luise van Beeck
An: Esther Ernst
Betreff: Vater, Mutter, Hund
Eine Eröffnung, die Du mit MUTTER beginnst – ich glaube, ich habe jetzt schon Angst.
Und zugleich: wie großartig – welche Vorlage!
Verzeih, wenn ich da im Gegenzug erst einmal mit VATER komme – zunächst sogar mit dem Vater aller Väter sozusagen:
Du […] ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter […], du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe […]Gewaltige Stiere haben mich umgeben, mächtige Büffel haben mich umringt. Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf wie ein brüllender und reißender Löwe […]; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn Hunde haben mich umgeben und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. (Psalm 22)
Und dann: ich erinnere mich an meinen Vater, der mir etwa ein Jahr bevor er starb erzählte, wie er einmal vom Nachbarsjungen verprügelt worden ist und heulend zu seiner Mutter nach Hause lief. Und wie diese ihn, ungeachtet seiner Angst, umgehend wieder nach draußen schickte, weil er sich so etwas nicht gefallen lassen dürfe, und wie er gehorchte und den anderen verprügelte.
Und wird nicht dann die Angst vor dem Nachbarsjungen (oder eben Hund) einfach verkehrt in die Angst vor der Mutter oder noch besser: vor dem Verlust der Liebe der Mutter?
Und ich sehe meinen Vater, der sich noch Jahrzehnte später immer bei großen Feiern mit Schwitzrändern unter den Achseln tapfer geschlagen hat.
Und jetzt hab ich natürlich Angst, dass wir schon all unser Pulver verschossen haben: Mutter, Vater, Hund – Realangst und neurotische Angst – und die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wie mit kämpfen, flüchten, tot stellen.
Ich finde nicht, dass Angst hip ist. Findest du, dass Menschen überhaupt ihre Gefühle wahrnehmen? Und wenn sie es tun, dann auch noch zeigen? Sich verletzlich machen?
Ich denke, es geht immer noch um Fassade – selbst in Zeiten zunehmender öffentlicher Entblößung.
Gesendet: 16. Februar 2015 um 11:11Uhr
Von: Esther Ernst
An: Luise van Beeck
Betreff: Hose voll
Potzdusig, dass Du mit einem Psalm antwortest (wie kommt’s?) verdutzt und erheitert mich zugleich. Aber klar, die Bibel ist wohl ein Buch mit vielfältigen Angstbeschreibungen … Eigentlich decken sich die benannten körperlichen Veränderungen des Zustandes von vor tausend Jahren ziemlich präzise mit der Beschreibung einer Reportage zum Thema Angst in der letzten Welt am Sonntag: Da berichtet eine Frau eindrücklich, wie sie seit zwanzig Jahren ihren Alltag mit Panikschüben und Angstzuständen meistert, welche Therapien sie gemacht hat und wie es sich anfühlt, einfach nicht zu wissen, warum sie unter solchen Attacken leidet und merkt, dass sie inzwischen längst Angst vor der Angst hat.
Ist es nicht erstaunlich, dass sich wahrscheinlich lediglich die Auslöser ändern und sich das Grundgefühl offenbar über einen großen Zeitraum unverändert anfühlt?
Und ja, ich finde (die Zeitungsbeilage ist ein gutes Beispiel, dieses Heft hier auch, oder denk an all die Angsterklärungsversuche zu Pegida), dass häufiger über Angst gesprochen, geschrieben und nachgedacht wird. In Unterhaltungen mit Frauen (tut mir leid, da sehe ich nach wie vor einen Unterschied zu den Männern) kreisen die Gespräche doch relativ schnell und ausdauernd um die eigenen Sorgen. Viele sprechen auch offen über ihre Therapieerfahrung und tauschen sich aus. Aber klar, ich bin ganz Deiner Meinung, es ist oftmals tatsächlich nicht einfach, seine Gefühle wahrzunehmen, um zu merken, dass die eigene Aggression zum Beispiel lauter Angst ist. Mir sagte meine Therapeutin mal, als ich eine ganze Weile vor mich hinschwieg und trotzte, während ich innerlich einen Schimpfmonolog runterratterte, dass ich wohl jede Menge Angst mit mir herum trage. Und ich daraufhin explodierte und meinte, dass das überhaupt nicht stimmt …
Gesendet: 08. März 2015 um 16:09 Uhr
Von: Luise van Beeck
An: Esther Ernst
Betreff: Fracksausen, Bammel, Schiss und Heidenangst
Wenn schon Zeitgeist, dann lass uns doch mal darüber nachdenken, warum es nur diese veralteten umgangssprachlichen Worte für Angst gibt. Oder fällt nur mir nix ein?
Und warum sollte sich überhaupt jemand mit der Angst schmücken wollen? Wo das doch mit Kontrollverlust verbunden ist und heute doch alles kontrolliert sein muss, selbst der Bartwuchs oder die Lebensmittelunverträglichkeit. Wohingegen in dem Psalm alles Unkontrollierbare drinsteckt: diese Übermacht, das Ausgeliefertsein, die Vielgestaltigkeit der Angst, der Wunsch nach Geb orgenheit und Nähe. Und all die körperlichen Symptome…
Ich bleibe dabei: auch heute will keiner mit Schiss in der Hose (auch in keiner hippen) dastehen.
Aber daran merke ich, dass wir gar nicht definiert haben, was denn nun Angst überhaupt ist – Angst oder Furcht oder nur ein kleines Kümmernis? Oder wahlweise auch: Beklemmung, Ängstlichkeit, Panik, Scheu, Todesangst, Furchtsamkeit, Horror, Bangigkeit, Grausen, Schreck, Sorge, Unruhe, Besorgnis, Befürchtung, Beunruhigung oder Feigheit, Mutlosigkeit oder Kleinmut.
Und heute sagt der Monsieur Bernard-Henri Lévy im Zeit-Interview, dass bei ihm Druck und Stolz hilft, gegen die Angst anzugehen. Und ich würde ja immer sagen: am besten ist die Neugier.
Vor was hast Du Angst? Wann merkst Du sie? Und was hilft Dir dagegen?
Gesendet: 10. März 2015 um 20:02 Uhr
Von: Esther Ernst
An: Luise van Beeck
Betreff: wo’s brennt
Fracksausen ist toll. Ob das vom Auftreten kommt? Orchestermusiker spielen ja im Frack. Und da bin ich auch schon bei einer meiner wiederkehrenden Ängste: ich träume oft, dass ich mit meiner Harfe auftreten soll. Grosse Bühne, voller Saal. Und ich weiss, ich hab nicht geübt, kann nix und versuche das erst zu überspielen, bis es immer schlimmer und unerträglicher wird und ich – um dem ganzen Schlamassel ein Ende zu setzen – mit grossem Getöse von der Bühne stürze und auf den Kopf falle.
Körperliche Angst hab ich vor engen, dunklen Räumen (stockdüstere Videokabinen sind ein Problem). Sorgen macht mir seit Neuem, dass ich im Alltag zunehmend Alarmsignale von Krankenwagen, Polizei- oder Feuerwehrautos aus der Ferne zu hören glaube, obwohl ich weiss, dass da keine sind …
Deine hilfreiche Wortsammlung zeigt es doch auf: da wächst vielleicht ein kleines Kümmernis zu einer Befürchtung, schwillt wieder ab oder mutiert zu einem Horror. Dazwischen sind alle Graustufen möglich. Wenn ich also in zwei Jahren selbst Tatü-Tataa rufend durch die Straßen laufe, dann kriegst auch Du Angst …
Ich nehme ja meinen Hipschwachsinn wieder zurück und meine eher, dass die Angst in unserer Gesellschaft langsam mehr Aufmerksamkeit kriegt, dass man sie nicht mehr – wie in unserer Elterngeneration – ausklammern braucht. Also nicht schmücken, sondern benennen, ihr Raum geben, zulassen. So wie im Psalm. Muss ja nicht immer gleich der gewaltige Stier vor der Tür stehen.
Was ich gegen meine Angst mache? Videokabinen meiden, Alarmsignale hören, dabei ruhig bleiben und mich fragen, was mich denn wohl so in Aufregung versetzt und warum ich mir das nicht selbst erzähle. Mir hilft, darüber zu reden und den Humor zu behalten.
Jetzt Du: wo brennt’s bei Dir? Und wie reagierst Du mit Neugierde drauf???
Gesendet: 16. März 2015 um 15:06 Uhr
Von: Luise van Beeck
An: Esther Ernst
Betreff: Tatütata oder: No one ever told me that grief felt so like fear
Komm Du mir mal in meine Gesprächstherapiegruppe. Da ging es heute auch ruckzuck um das Thema Angst – und letztlich sagte dann eine Patientin: Na, wir haben doch alle Angst vor dem Alleinsein. Und nach dem Benennen soll es aber ganz schnell um etwas anderes gehen – Gefahr benannt, Gefahr gebannt – um lieber nicht ins Fühlen zu kommen, was dieser Satz alles mit sich bringt.
Sollte ich jetzt hier die verschiedenen Ebenen der Angst (körperlich, gedanklich …) und klassische Reaktionsmuster (fliehen, kämpfen, totstellen) oder Abwehrmechanismen erklären? Vielleicht, aber ich will definitiv nicht den Psychologie-Erklärbär machen.
Also lieber: warum hörst Du denn Sirenen? Angst, dass da draußen eine Bedrohung ist? Oder dass Dir niemand helfen kann?
Fragen sind das Größte und Träume natürlich auch. Und Fragen zu Deinem Traum: steckt dahinter die Angst vor dem Scheitern, vor der Ablehnung oder vor der Bloßstellung? Also eher Scham oder Kränkung?
Und wofür steht die Videokabine? Und wieso überhaupt Videokabine und nicht Keller?
Ich finde auch, dass sich an Deinen Beispielen der Unterschied zwischen Furcht und Angst zeigt: wo die eine ein Objekt gefunden hat, an das sie sich bindet, und die andere etwas so Diffuses und Freiflottierendes ist.
Ich bin Angst und habe Furcht. Dabei kann ich Dir mit einer konkreten Furcht gar nicht mal dienen, kenne aber aus den letzten Jahren durchaus diese ganz archaische und universelle Angst, mich und/oder meine Welt zu verlieren.
Auslöser sind da zum Beispiel gern die sogenannten Schwellensituationen oder eben alles, was Veränderung oder Verlust bedeutet, wie z. B. auch die ersten beiden A’s der Heftreihe – Arbeit, Alter – oder noch ein A: das Alleinsein – alles beste Furchteinflösser. In meinem Fall ist am beängstigendsten die Kombination: Alleinsein im Alter. Ich sehe mich dann in diesen grauen Polyesterhosen mit Gummizug mit passender Unisex-Outdoor-Jacke in beiger Farbe (apropos: unbedingt anhören: The Beigeness von Kate Tempest), wie ich einmal täglich mit einem Einkaufstrolley durch Berliner Straßen ziehe und die Welt nicht mehr verstehe, um dann in meine Einraumwohnung zurück zu flüchten.
Mir hilft in beängstigenden Situationen tatsächlich meine kontraphobische Art – so, dass ich nicht in Schockstarre verfalle oder in ewigstabiler Seitenlage verharre. Und andererseits die Neugier, was mir die Gefühle, Menschen, Dinge, Situationen und ich mir denn so sagen wollen – denn oftmals haben wir für diese Angst noch gar keine Sprache gefunden. Daher kann sie auch so übermächtig und überwältigend werden. Und vielleicht ist es deshalb auch so wichtig, dies in Beziehung zu machen, bestenfalls, gehalten zu sein. Das Alleinsein erst mal im Beisein lernen …
Außerdem beschäftigt mich gerade ein Zitat von Hilary Mantel: Fear of commitment lies behind the fear of writing.
Für writing kannst Du ja alles Mögliche einsetzen. Und wenn ja, was heißt das dann?
Und ich merke, dass mir die ganze Mail zu ernst ist und ich am liebsten noch eine leichte Anekdote einfließen lassen würde; oder wie eine Patientin in der Gruppe meinte: Können wir nicht einfach über das Wetter reden? …
Gesendet: 20. März 2015 um 23:49 Uhr
Von: Esther Ernst
An: Luise van Beeck
Betreff: Angsthasenverhalten
Du meinst die Beziehung zwischen Therapeut und dem Patient, oder? Das ist ein schöner Gedanke, dass man das Alleinsein in dieser Form zu zweit lernt. Überhaupt mag ich Deine ernste Mail und auch das Benennen von Angst. Wenn ich Dich richtig verstehe, bedeutet das doch, dass man ein Stück Kontrolle über und Distanz zu dem diffusen und beängstigenden Gefühl bekommt. Und aus diesem Zustand (festerer Boden) lässt sich wieder agieren (zum Beispiel Fragen stellen, oder neugierig sein). Wenn die Angst nicht bezogen ist und man nicht mehr weiss, wo oben und unten ist, dann droht doch die Angststarre und das Ende im Gelände, nicht?
Kennst Du das Angsthasenspiel? Es geht um das Szenario einer Mutprobe: Zwei Sportwagen fahren mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Wer ausweicht, beweist damit seine Angst und hat das Spiel verloren. Weicht keiner aus, haben beide Spieler zwar die Mutprobe bestanden, ziehen jedoch daraus keinen persönlichen Nutzen, weil sie durch den Zusammenprall ihr Leben verlieren.
Menschen sind doch vollkommen bekloppt.
Und meine Sirenen sind natürlich die Verlockung. Draussen das betörende Leben, drinnen die Arbeit und das schlechte Gewissen, immer zu wenig gemacht zu haben. Mal sehen, ob ich mir die Ohren mit Wachs verschließe und mich raustraue.
Und ist Hilary Mantels Bindungsangst das Pendant zur Angst, alleine alt zu werden?
Heute lese ich in der Dieter-Roth-Ausstellung im Hamburger Bahnhof (geh da hin, ist toll!) in einem seiner durchgeknallten Tagebuchkalender: Dauerangst (vor wechselnden Personen), Neid gewisser Personen, Hass einzelner / ich bin aus der Furcht vor Personen nie zu Hass gekommen / jTäuschungsmanöver (?) = Versuch (?) / Ich bin oft ein Hasser / halte mich jedoch ängstlich, bequem = träge innerhalb des Moralgebiets? / Kann mich nicht dagegen wehren / zu viel Angst? / Immer Angst / klossartiger Feigling …
Seine Beschimpfung geht eine dicht beschriebene DIN-A5-Seite lang und endet mit: ich fürchte (schon fast Gewissheit) es wird nur schlimmer.
Und dann hat er ein Kinderziehharmonikalied aufnotiert …
Gesendet: 24. März 2015 um 12:26 Uhr
Von: Luise van Beeck
An: Esther Ernst
Betreff: Verlockungen der Großstadt – ein Dialog
Auch schade, wenn die Sirenen nicht mal mehr schön singen.
Und ich komme noch mal zurück zum Zitat, denn ich glaube, zwei unserer Gedankenflüsse treffen sich darin.
Commitment verstehe ich als ein Sich-einlassen und -widmen und das kann sich natürlich steigern in ein Sich-hingeben oder -ausliefern, aber vielleicht auch in ein Sich-darin-verlieren.
Und wahrscheinlich stoße ich überhaupt jetzt gerade auf das Zitat, weil mir dieses an sich so schöne Bei-der-Sache-bleiben (denn es bezieht sich tatsächlich eher auf Dinge oder Tätigkeiten) derzeit manchmal schwer fällt, wohingegen das Beim-Menschen-bleiben und sich diesem widmen nicht.
Du merkst: obwohl ich gerade noch geschrieben habe, ich hätte zur Zeit keine konkrete Furcht, lüge ich mir und Dir dabei in die Tasche (wo kommt das eigentlich her?).
Warum ist mir das Schreiben anscheinend unheimlicher und das ja auch nur scheinbar Flüchtige im Gesprochenen näher? Weil das Gespräch dialogisch ist und es immer noch den anderen als Bezug gibt? Wie auch in unserem Mail-Austausch – wo es jetzt weitergehen könnte mit Fragen wie: Wann weißt Du, dass eine Zeichnung fertig ist?
Während das Schreiben oder Werken im Allgemeinen auch ein Bei-sich-bleiben bedeutet. Und wohnt dem Schreiben (mit seiner Veröffentlichung) nicht immer schon ein Endpunkt und etwas Endgültiges inne?
Die Begegnung muss (selbst bei Deinen idiotischen Angsthasen) nicht notwendigerweise zu einem tödlichen Zusammenprall führen. Das Gespräch oder die Beziehung ist ein stetiger Prozess und bedeutet ein ständiges Werden. Beim Schreiben oder jedem Veröffentlichen heißt es aber, irgendwann den Stift hinzulegen und das Gewordene stehen zu lassen. Und da sind wir dann – bei meiner Angst vor dem Loslassen. Dem Ende.
Zeichnung: Esther Ernst